Kulturtheorie

Wozu Theater?

Wären wir nicht immer wieder einmal auch einverstanden, hätten wir weder die Kraft zur Kritik noch den Mut zur Veränderung.

Professor Dr. Dirk Baecker
 
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    Zur Person
    Professor Dr. Dirk Baecker

    Professor Dr. Dirk Baecker ist Inhaber des ZU-Lehrstuhls für Kulturtheorie und –analyse. Der studierte Soziologe und Nationalökonom forschte und lehrte in Bielefeld, Wien, Kalifornien, Maryland und London und wurde 1996 an die Universität Witten/Herdecke auf den Lehrstuhl für Unternehmensführung, Wirtschaftsethik und sozialen Wandel berufen. 2000 folgte der Ruf auf den Lehrstuhl für Soziologie an derselben Universität und die Mitbegründung des Management Zentrums Witten.  

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    Factbox
    Zum Weiterlesen: „Wozu Theater?" von Dirk Baecker

    Hat das Theater eine gesellschaftliche Funktion? Dirk Baecker bejaht diese Frage. Er sieht diese Funktion in der Reflexion auf Verhältnisse der Beobachtung zweiter Ordnung, der Beobachtung von Beobachtern, die das Theater auf ganz einmalige Weise leistet. Damit stellt er dem Theater seine Kunst nicht in Abrede. Ganz im Gegenteil: Denn dafür, Beobachter beobachtbar zu machen, muss sich das Theater an eine Wahrnehmung wenden, die normalerweise
    anderes zu tun hat. Ein Abenteuer, so Baecker, ist das gegenwärtige Theater aus zwei Gründen: Erstens werden auch die Körper, das Licht, die Stimmungen, die Bühnenbilder und die Medien als Beobachter wiederentdeckt, die im klassisch modernen Theater fast ganz von den Menschen verdrängt worden sind. Und zweitens stellt das Theater heute nicht mehr nur seine Institutionen, sondern seine Formate zur Diskussion. Darsteller, Regisseur und Publikum sind nahe daran, ihre Rollen zu tauschen. Diese beiden Linien des gegenwärtigen Theaters geht Dirk Baecker anhand verschiedener Arbeiten nach und versucht eine Antwort auf die Frage zu finden, was man über eine Gesellschaft sagen kann, in der das Abenteuer Theater immer noch eine Funktion hat.

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Oft bedeutet Theater auch heute noch gute Unterhaltung und einen entspannten Abend. Sprechen Sie Theater in dieser Form die gesellschaftliche Funktion ab?

Professor Dr. Dirk Baecker: Aber nein, natürlich nicht. Unterhaltung hat eine wichtige Funktion innerhalb der Gesellschaft. Sie lässt uns einverstanden sein, wie Horkheimer und Adorno in allerdings kritischer Absicht gesagt haben. Wären wir jedoch nicht immer wieder einmal auch einverstanden, hätten wir weder die Kraft zur Kritik noch den Mut zur Veränderung.

Sie beschrieben in ihrem Buch, wie stark Theater zu neuen Formen der Beobachtung anregt. Welche neue Stufe der Beobachtung von Körper, Licht und Stimmung wird erreicht, wenn eine antike Tragödie von spärlich bekleideten Menschen vor einem komplett weißen Bühnenbild aufgeführt wird?


Baecker: Der wichtigste Effekt scheint mir hier der zu sein, dass man durch den Verzicht auf Kleidung und Bühnenbild auf die Funktionen von Kleidung und Bühnenbild aufmerksam wird. Man lernt, verschiedene Momente einer Inszenierung voneinander zu trennen und asketische Formen der Inszenierung ebenso für sinnvoll zu halten wie üppige. Und natürlich fragt man sich, welche Tragödien und Komödien den Verzicht auf dekorative Elemente aushalten und welche nicht.

Ihr Buch beinhaltet eine Sammlung verschiedener Beiträge über einen längeren Zeitraum. Sie haben die Situation der Stadt Berlin immerhin über zehn Jahre beobachtet, ein Zeitraum, in dem durch die Bevölkerungsstruktur verursachte Probleme stark zugenommen haben. Können Sie vielleicht an einem Beispiel zeigen, wie das gegenwärtige Theater auf solche Veränderungen reagiert?


Baecker: Eines der prägnantesten Beispiele ist die Aufführung des sogenannten Postmigrantentheaters etwa der Art von Shermin Langhoff zunächst im Hebbel Theater HAU in Kreuzberg und mittlerweile im Gorki-Theater in Berlin Mitte. Da wird nicht mehr von Türken für Türken Theater gemacht. Das wäre Migrantentheater. Da wird von Berliner Türken für Berliner – und Touristen – Theater gemacht. Und dieses Theater bietet eine willkommene Gelegenheit, sich anhand von Szenen und Geschichten anzuschauen, welchen Unterschied der Migrantenhintergrund eines Türken im Leben einer Stadt macht. Hat man das einmal im Theater gesehen, wird man mit seinen Stereotypen draußen vorsichtiger. Es geht also nicht um Fragen von Armut und Reichtum, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, dieser Kultur und jener Kultur, sondern um Fragen der Identitätspolitik und der Kraft und Rolle von Inklusion und Exklusion.

Zum Weiterlesen: „Wozu Theater?" von Dirk Baecker


Ist das Theater in der Lage, gesellschaftliche Entwicklungen bewusst zu machen oder zu beeinflussen, bevor sie anderen Institutionen in Politik und Wirtschaft überhaupt auffallen?


Baecker: Nein, so weit würde ich nicht gehen. Das Theater muss ja auch erst einmal auf seine Themen aufmerksam werden. Und das kann durchaus erst dann geschehen, wenn bestimmte politische Konflikte diese Themen prominent machen. Aber im Theater können dieselben Themen anders behandelt werden - spielerischer, fragender und auch karikierender als in der Wirklichkeit. Und dann kann man mit diesen Themen zuweilen auch in der Wirklichkeit der Politik anders umgehen.


In großen Städten ist es sicherlich möglich, verschiedene Theaterformen, anzubieten. Wie sollen kleinere Städte mit da mithalten. Ist eine kulturelle Weiterentwicklung dort überhaupt notwendig?


Baecker: Kleinere Städte benötigen nicht die ganze Palette theatraler Formen. Sie benötigen einen guten öffentlichen Nahverkehr, um bequem in die nächste größere Stadt fahren und abends auch noch wieder zurückzukommen.

Halten Sie es für bedenklich, dass viele „moderne“ Theater einfach nur einen marktstrategischen Nutzen aus dem Mainstream des Andersseins ziehen wollen und das Publikum einfach nur hingeht, um auf der nächsten Szeneparty sagen zu können, man war auch schon da?


Baecker: Was Sie „einfach" nennen, halte ich für komplex. Der marktstrategische Nutzen ist ja nur ein Mechanismus für die Verbreitung von Angeboten, die gegenwärtig aus welchen Gründen auch immer beim Publikum Interesse finden. Und auf einer Szeneparty zeigen zu können, dass man up to date ist, kann eine wichtige Bedingung sein, mit anderen auch in anderen Hinsichten in eine Beziehung zu kommen. Die Selbstorganisation der Gesellschaft benötigt zuweilen scheinbar triviale Aufhänger oder Ankerpunkte, um durchaus nicht-triviale Zusammenhänge aufbauen zu können. Oder beginnen Sie Ihre Bekanntschaften mit einer umfassenden Interpretation von Goethes „Faust"?


Wo sehen Sie das deutsche Theater in zehn bis fünfzehn Jahren?


Baecker: Seit den 1990er Jahren setzt sich das deutsche Theater mit dem Einfluss einer einzigen Theaterschule auseinander, des Gießener Instituts für angewandte Theaterwissenschaft. Diese Schule fordert „Wirklichkeitstheater", ein Theater ohne festes Schauspielerensemble, ohne bereits aufgeschriebene Stücke, ohne Autorenregisseure, jedoch ein Theater mit Alltagsexperten, mit Schauspielern, die sich ihre Stücke selber schreiben, mit Textfragmenten, die aus der Wissenschaft, aus der Kirche, aus der Justiz, aus der Politik, aus der Hauptversammlung eines DAX-Konzerns oder sonstwoher kommen können. Dieses Theater kramt in den „Schubladen" unserer Wirklichkeit und überprüft die „Schubladen", das heißt Denkschablonen unserer Wirklichkeitskonstruktion. „Schubladen" heißt ein Stück, mit dem die Theatergruppe She She Pop gerade tourt. In zehn bis fünfzehn Jahren wird das deutsche Theater den Schock dieser neuen Theaterformen verarbeitet haben.


Foto: Bahman Farzad via flickr.com

Dirk Baecker (Hrsg.): „Wozu Theater?", Theater der Zeit, 201 Seiten, ISBN-10: 3943881059, ISBN-13: 978-3943881059

"Wozu Theater?" - Professor Dr. Dirk Baecker
 
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Leserbrief
Seltsame Annahme...
Schützi | 03.02.2019

Ein spannender Beitrag – aber eine seltsame Annahme in diesem Satz: „Halten Sie es für bedenklich, dass viele ,moderne‘ Theater einfach nur einen marktstrategischen Nutzen aus dem Mainstream des Andersseins ziehen wollen und das Publikum einfach nur hingeht, um auf der nächsten Szeneparty sagen zu können, man war auch schon da?“ Ich sehe im Theater sehr wenige „junge Geschäftsleute“, die mit dieser Motivation ins Theater gehen...


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