Privatheit

Gibt es ein Recht auf Alleinsein?

Wir beantworten lieber E-Mails vor dem Einschlafen, statt mit den Liebsten zu kuscheln. Die Erschöpfungen des Selbst sind nicht selten selbst gemachte Privatentscheidungen.

Professor Dr. Stephan A. Jansen
Präsident der Zeppelin Universität
 
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    Zur Person
    Stephan A. Jansen

    Professor Dr. Stephan A. Jansen wurde im Mai 2003 zum Gründungspräsidenten und Geschäftsführer der Zeppelin Universität berufen. Im gleichen Jahr wurde er durch das Wissenschaftsministerium Baden-Württemberg als Professor auf den Lehrstuhl für „Strategische Organisation & Finanzierung | SOFI“ ernannt. Nach einer Banklehre als Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes absolvierte er ein Studium der Wirtschaftswissenschaft in Witten/Herdecke, an der New York University sowie der Tokyo Keizai University. 1997 bis 2003 schlossen sich weitere wissenschaftliche Stationen an der Stanford University sowie der Promotion an der Harvard Business School an.

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Was genau ist Privatheit für Sie?

Professor Stephan A. Jansen: Ich würde mich dem Richter Louis Brandeis und dem Rechtsanwalt Samuel D. Warren anschließen, die 1890 in der »Harvard Law Review« Privatheit so definierten: „the right to be let alone“. Es ist in zweifacher Weise präzise: 1. Man wird in Ruhe gelassen, und 2. ist es ein Recht, das man selbst in Anspruch nehmen kann – oder nicht.


Gibt es Theorien des Privaten?


Jansen: Ja. Die Unterscheidung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit wird in zahlreichen rechtsphilosophischen, soziologischen, politik- und kommunikationswissenschaftlichen oder eben auch ökonomischen Theorien seit Jahrhunderten debattiert. Diese Debatte bleibt allerdings sehr unscharf bei den Unterscheidungen zwischen „Staat | Wirtschaft“, „Kollektiv | Familie“, „politisch | unpolitisch“ oder „Transparenz | Geheimhaltung“. Damit ist die Definition des Privaten immer eine der Abgrenzung und der Abgeschlossenheit. Das Faszinierende ist, dass wir bei dem Konzept der sogenannten Privacy darauf angewiesen sind, dass eine staatliche, also öffentliche Instanz diese Abgeschlossenheit gewährleistet. Das wird noch komplexer, wenn wir staatliche Absicherungen brauchen, um staatliche Einflussnahme auf das Private einzuschränken.

Privacy: in der digitalen Welt ein Relikt der Vergangenheit?
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Seit wann kümmert sich der Staat um das Private?

Jansen: Die Debatte begann in der klassischen Antike mit einem noch unentschiedenen Platon und seinem dies kritisierenden und zwischen oikos und polis unterscheidenden Schüler Aristoteles. Demnach gibt es mit dem oikos einen privaten als autark angenommenen Haushalt mit einem öffentlichen Teil (andron) und die polis, als Bürgergemeinschaft oder auch Stadtstaat. Damit wird zwischen hauswirtschaftlichen und politischen Entscheidungen unterschieden. Mit den Schriften von Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jacques Rousseau liegen liberale Vertragstheorien vor, die zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert entstanden und Staat und Familie trennten. So wurde beispielsweise bei Locke der Schutz des Privaten und der Familie (Erbschaften) durch den Staat vorgesehen, der das Gewalt monopol an das Familienoberhaupt delegieren konnte. Dies ist eine Errungenschaft des Rechtsstaats.

Beeinflusst durch den Idealismus und Hegel, kam es im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert mit der Entstehung des Bürgertums, der Nationalstaaten und der Entwicklung des Kapitalismus zur sogenannten modernen politischen Theorie, die weitergehende Interpretationen angeboten hat. Seither hat der Begriff Öffentlichkeit zwei Bedeutungen: Er steht für die staatliche Perspektive des Allgemeinwohls, aber auch für das, was in der Gesellschaft zwischen Staat, Markt und Familie öffentlich ist.

Bei aller Theorie: Ist das noch praktisch?

Jansen: Nein, das ist es nicht. Die theoretischen Unterscheidungen sind verschwommen und bringen einen in der Praxis nicht weiter. Einerseits wird deutlich, dass es eine politische, also öffentliche Entscheidung sein müsste, was öffentlich und privat ist – und zwar sowohl bei Eigentumsrechten wie bei der Verantwortung für die Produktion von öffentlichen und privaten Gütern.

Andererseits erleben wir die Veröffentlichung des Privaten im Sinne des Claims von Youtube: „Broadcast yourself!“, während gleichzeitig das Öffentliche durch Geheimdienste, Big Data oder Social Media vereinnahmt wird. Damit löst sich diese Unterscheidung, die sich selbst öffentlich hinterfragt und vorführt, langsam auf. Vermutlich war die von Facebook-Mitgründer Zuckerberg im September 2011 bei der Vorstellung der Timeline-Funktion ironiefrei vorgetragene Position der vorläufige Höhepunkt dieser Verwechslung: „Wir geben Ihnen die Möglichkeit, die Geschichte Ihres eigenen Lebens zu kuratieren.“

Inzwischen wünscht man sich einen Rechtsanspruch, mal endlich wieder allein gelassen zu werden in dieser Sennettschen „Tyrannei der Intimität“.

Was ist heutzutage noch privat? Die meisten Statusupdates auf Facebook sind es jedenfalls nicht.
Was ist heutzutage noch privat? Die meisten Statusupdates auf Facebook sind es jedenfalls nicht.

Kommen wir zum Alltäglichen: Wie grenzt die Theorie Arbeit und Freizeit ab?

Jansen: Die Theorie macht das eigentlich nicht. Das Gerede von der Work-Life-Balance ist ja in zweierlei Hinsicht irritierend: 1. Leben wir denn nicht, wenn wir arbeiten? 2. Hat sich der Selbstständige das Problem der Entgrenzung zwischen Arbeit und Freizeit nicht selbst eingebrockt, weil er genau die Arbeit mit dem Lebenssinn verwechselt? Frühere Arbeitgeber-Organisationen haben zum Schutz des Mitarbeiters klare Arbeitszeiten und den Werkschutz eingeführt, um diese Grenze zu schützen. Heute haben Arbeitgeber eine ganz andere Herausforderung, nicht selten, weil sie dem Wunsch ihrer Angestellten nach Flexibilität nachgeben: Sie müssen den Standby-Modus der Mitarbeiter in einer entgrenzten räumlichen und zeitlichen Form unterstützen, durch Home Office und entsprechende mobile Geräte – um dann mit den psychologischen Folgewirkungen dieser Möglichkeiten umzugehen, weil es den selbstständigen und nach Flexibilität suchenden Angestellten nicht immer gelingt, Grenzen zu setzen.

Beschäftigungsbedingte psychische Krankheiten sind mittlerweile nach der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) die Hauptursache für die Fehlzeiten von Arbeitnehmern. Wenn aber die Krankheit die Grenze zwischen Privatleben und Arbeit ziehen muss, ist es teuer für alle Beteiligten. Im 21. Jahrhundert fragen wir nicht mehr, wie die Grenze zu setzen ist – wir fragen, wer sie setzt. Und weil es darauf offenbar keine befriedigende Antwort gibt, werden wir Zeugen dessen, was das »Zeit Magazin« mal so treffend als „Feierabend vom Feierabend“ bezeichnet hat: Wir beantworten lieber E-Mails vor dem Einschlafen, statt mit den Liebsten zu kuscheln. Die Erschöpfungen des Selbst sind nicht selten selbst gemachte Privatentscheidungen.

Brauchte man das Private auch zur Entwicklung einer Freizeitindustrie?

Jansen: Ich kann nur spekulieren. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk kann sicherlich auch als eine Reaktion auf die seit den vergangenen Jahrzehnten zunehmende Freizeit verstanden werden. Andere Freizeitgestaltungs- und -vernichtungsindustrien sind private Geschäftsmodelle. Heute ist aber in entwickelteren Ländern eine paradoxe Entwicklung zu beobachten: Menschen, die viel arbeiten, setzen sich durch ehrenamtliche Tätigkeiten mehr für die Öffentlichkeit ein als solche, die weniger arbeiten. Die Menschen mit hohen privaten Zeitreserven sind tatsächlich stärker im Privatkonsum und auf Reisen. Mit der demografischen Wende werden wir uns auf kreativere Errungenschaften als Altenheime einstellen können: Die geschenkten Jahre werden die Altersfreizeitindustrien erst noch entwickeln.

Sie sind Präsident einer Privatuniversität. Was ist eigentlich privat daran?

Jansen: Ausschließlich die nicht staatliche Finanzierung, die interessanterweise genau zu einer höheren Verbindlichkeit und Beziehungsfähigkeit mit der Öffentlichkeit führt. Privatuniversitäten müssen sich ihre Existenzberechtigung auf dem staatlich alimentierten Hochschulmarkt täglich neu erarbeiten: durch eine beziehungsfähige Lehre, um etwa Studiengebühren zu rechtfertigen; durch beziehungsfähige Forschung, um Drittmittelförderungen zu bekommen; und durch beziehungsfähige Projekte mit gesellschaftlichen Anspruchsgruppen, auch mit Blick auf Mäzene und Spender.

Und da empfiehlt es sich sehr, die Tür aufzumachen und die Leuchtturm-Metapher zu streichen – denn Leuchttürme warnen ja vor allem auch vor sich selbst, und der Leuchtturmwärter wird nur selten von denen besucht, denen er nutzt. Das Private erzeugt den Druck des Öffentlichen und der Veröffentlichungen. Und erfolgreiche Staatsuniversitäten belegen das in gleicher Weise. In den USA sind die sogenannten land-grant universities Hochschulen, die Landbesitz übertragen bekommen haben, um dafür einen stärkeren, auch zivilgesellschaftlichen Bezug zu ihrer Region aufzubauen. Das ist in Deutschland so nicht zu beobachten, gerade die Exzellenz-Förderung ist eher darauf ausgerichtet, international in der Spitzenforschung wieder Land zu gewinnen.

Gibt es Zeitmanagement-Tipps, die Ihnen geholfen haben?

Jansen: Ja, vor allem der Rat, diese Ratgeber-Literatur nicht zu lesen. Ich unterscheide seit Beginn meiner Führungsaufgaben zwischen kommunikativen und produktiven Zeiten, die ich an jeweils dafür geeigneten Orten – also öffentlich und privat – entschieden separat lebe. Und ich bin ein Anhänger von den Arbeiten Byung-Chul Hans zum „Duft der Zeit“ in einer positiven Müdigkeitsgesellschaft – und ewiger Anfänger in der Umsetzung. Früher gab es Duftuhren, die Dauer und Erinnerung anders gemessen haben. Und es gab das Recht auf eine Müdigkeit, die produktiv wirkt, was wir uns in unserer zeitlosen Dauergegenwärtigkeit kaum mehr öffentlich zu sagen trauen. Aber ich nehme mir jeden Tag das Recht, endlich mal allein gelassen zu werden, um für mich und andere richtig produktiv zu sein.

TitelfotoJason Howie (CC BY 2.0)

Textg4ll4is (CC BY-SA 2.0) | David King (CC BY-NC-SA 2.0)

Dieser Beitrag erschien in gleicher Form in der brandeins Ausgabe 2/2013.

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