Kulturmanagement im Selbstversuch

Die Stadt singt!

Durch die Kunst wird der Stadtraum imaginär aufgeladen und es entsteht ein Möglichkeitsraum. Die Stadt wird als Öffentlichkeit wahrgenommen und kann sich selbst erfahren.

Prof. Dr. Karen van den Berg
 
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    Prof. Dr. Karen van den Berg

    Professor Dr. Karen van den Berg ist Professorin für Kulturtheorie und inszenatorische Praxis an der Zeppelin Universität. Sie studierte Kunstwissenschaft, Klassische Archäologie und Nordische Philologie in Saarbrücken und Basel, wo sie auch promovierte. Von 1993-2003 war sie Dozentin für Kunstwissenschaft am Studium fundamentale der Privaten Universität Witten/Herdecke. Seit 1988 realisiert sie als freie Ausstellungskuratorin zahlreiche Ausstellungsprojekte in öffentlichen Räumen und in Kunstinstitutionen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. Kunst und Öffentlichkeit, Kunstvermittlung und Politik des Zeigens, Kunst und Emotionen, Rollenmodelle künstlerischen Handelns sowie die sozialen Effekte von Bildungsarchitekturen.

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    Polly & Bob – das Orignal aus Berlin
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Während einer Berlin-Exkursion mit seiner CCM-Master-Kohorte im letzten November, nahm Constantin May an der Nacht der singenden Balkone in Friedrichshain teil. `Singing Balconies´ ist eine der vielen Aktionen der Nachbarschaftsinitiative Polly & Bob, die damit ein besseres Miteinander im Stadtteil schaffen wollen. May fand die Idee, die Stadt bei einem abendlichen Spaziergang in ein Kaleidoskop der Künste und so der Gemeinschaft zu verwandeln, so spannend, dass er sie kurzerhand für Friedrichshafen adaptierte. Gemeinsam mit seiner Kommilitonin Julia Pohl hat er in den letzten Monaten Häfler dazu eingeladen, ihre Balkone und Fenster in Friedrichshafens Innenstadt für die Aktion zur Verfügung zu stellen. Die beiden haben mittlerweile viele Performer gefunden, die dann dort für ihre Nachbarschaft, etwas zum Besten geben wollen.

Am 9. April um 18:30 Uhr startet Singing Balconies mit einer Performance vom Fenster im 2. Stock der Karlstraße 34.
Am 9. April um 18:30 Uhr startet Singing Balconies mit einer Performance vom Fenster im 2. Stock der Karlstraße 34.

Nach Prof. Dr. Karen van den Berg entspricht das Format von `Singing Balconies´ einem neuen Ansatz in der Kulturproduktion. In den letzten Jahrzehnten habe sich der Kulturbereich extrem gewandelt. Die Idee eines Kultursystems neben der Gesellschaft, bei dem auf der einen Seite die Kulturschaffenden, auf der anderen Seite das Publikum und dazwischen Marketing, eine Werbungmaschinerie und im besten Fall Vermittlung sind, sei längst überholt, betont sie: „Die Idee von `Singing Balconies´ ist ein Paradebeispiel dafür, wie man das Konstrukt eines abgetrennten Kultursystems, das nach einem Publikum sucht und in seine `abgeschlossene Arena´ bringt, aufbricht. Der offene Stadtraum, Akteure, Publikum greifen ineinander und es entsteht eine poröse Mixtur. Dabei wird meiner Meinung nach Öffentlichkeit im emphatischen Sinne sichtbar.“

Begegnung braucht Raum. Durch die Erweiterung der künstlerischen Praxis auf den Bereich alltäglicher sozialer Prozesse entsteht nach der Theorie des Raumtheoretikers Henri Lefebvre (1901-1991) eine neue Ordnung gesellschaftlicher Räumlichkeit. Diese imaginäre Raumproduktion kann die Stadt transformieren und erfahrbar machen. Wie diese Erfahrung genau aussehen wird, ist aufgrund der unterschiedlichen Spielstätten und der Diversität im Angebot von Rap bis Chorgesang noch vollkommen offen. „Im Gegensatz zu beispielsweise den Relational Aesthetics werden bei `Singing Balconies´ keine Settings in Museen und Kunsträumen geschaffen, die das Publikum gönnerhaft zur Partizipation einladen. Es geht noch einen Schritt weiter, denn das Kulturprojekt wird nur mit den Menschen, die sonst vielleicht Teil des Publikum gewesen wären und die man nicht kennt und einschätzen kann, möglich. Wenn man sich auf das Risiko einlässt, auf diese Weise Öffentlichkeit zu erzeugen, ohne den Qualitäts-Filter einzubeziehen, wird man mit einer neuen Qualität überrascht“, sieht van den Berg voraus.

Nach dieser Route spannen alle Teilnehmer am Mittwoch gemeinsam ein Kaleidoskop der Künste und produzieren so einen Raum der Möglichkeiten.
Nach dieser Route spannen alle Teilnehmer am Mittwoch gemeinsam ein Kaleidoskop der Künste und produzieren so einen Raum der Möglichkeiten.

„Wir können von dem `Wir´ als Kulturschaffende gar nicht reden, denn Julia und ich nehmen nur eine vermittelnde Funktion ein. Wir schaffen keine Kultur, sondern ermöglichen diese“, betont Constantin May. Auch van den Berg findet den Aspekt des `Ermöglichens´ im Zusammenhang mit dem Begriff des Managements wichtig: „In den Kulturmanagement-Seminaren versuchen wir, die Studierenden darauf vorzubereiten, wie sie mit einer Lokalität umgehen, sie verstehen lernen und davon ausgehend, sie auch bespielen und neue Formate entwickeln können.“ Mit Zygmunt Bauman, einem polnisch-britischen Soziologen und Philosophen, geht sie davon aus, dass Management und Kultur einen gemeinsamen Nukleus haben, der seinen Ursprung im Begriff des Kultivierens hat. Bestehende Verhältnisse werden in eine bestimmte Form gebracht. „Der Manager gibt sich nicht zufrieden mit den aktuellen Verhältnissen, sondern er bringt andere dazu, darin zu agieren und etwas zu erzeugen, was so vorher nicht da war“, erklärt van den Berg. Die Lehre des Kulturmanagements an der Zeppelin Universität fokussiere weitergehend ein gesellschaftliches Bewusstsein und eine starke Reflexion darüber, in welcher Gesellschaft wir heute leben.


Genau wie Polly & Bob in Friedrichshain wünschen sich die beiden Studierenden ein besseres Miteinander in Friedrichshafen, erzählt Julia Pohl: „Wir erhoffen uns, dass eine Durchmischung stattfindet und sich neue Perspektiven in der Nachbarschaft eröffnen. Die Bewohner Friedrichshafens – ob nun ZFler, ZUler, Schüler oder Alteingesessene – können durch die gemeinsame kreative Erfahrung näher zusammenwachsen, sodass am Ende gar nicht mehr wichtig ist, wer woher kommt oder was macht und alle einfach nur noch Häfler sind.“ Damit wehren sie sich gegen den konstruierten Gegensatz zwischen ZUlern und Häflern, der u.a. durch die Medien ständig reproduziert wird. Diese Differenz aufzumachen, sei völliger Unsinn, findet auch van den Berg: „Die Studierenden wohnen hier und sind während ihres Studiums Häfler. Friedrichshafen ist eine Universitätsstadt.“

`Singing Balconies´ findet am Mittwoch, den 9. April 2014 um 18:30 Uhr statt. Start: unter dem Fenster der Karlstraße 34. Wer noch teilnehmen möchte, kann sich auf der Homepage des Projekts anmelden.

Titelbild: Benjamin Pritzkuleit / ZU

Bilder im Text: Friedrichshafen / flickr.com; Constantin May und Julia Pohl

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