Katholische Kirche

Papst-Papier mit Perspektive?

In jedem Fall zeigt die öffentliche Diskussion den Ertrag des Schreibens als Ganzes, nämlich, dass Franziskus die streng normierten Kategorien zwischen regulärer und irregulärer Lebens- und Glaubenspraxis aufhebt und bereit ist, Kompromisse einzugehen.

Tim Miller
PAIR-Student an der Zeppelin Universität
 
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    Tim Miller

    Tim Miller studiert im vierten Bachelorsemester Politics, Administration and International Relations an der Zeppelin Universität. Zur Zeit absolviert Miller ein Praktikum an der Deutschen Botschaft beim Heiligen Stuhl in Rom. Im Anschluss bleibt Miller der italienischen Kultur treu und absolviert im Herbst diesen Jahres ein Auslandssemester an der Università di Cagliari.

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Wie bewerten Sie das päpstliche Schreiben „Amoris Laetitia“?


Tim Miller: Zunächst ist das Lehrschreiben als Schlussakkord eines von Papst Franziskus initiierten, mittlerweile drei Jahre andauernden Prozesses der Kirche in Auseinandersetzung mit strittigen Fragen der Familienpastoral zu betrachten. Mit „Amoris Laetitia“ fasst der Papst die Ergebnisse der XIV. ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode zusammen und nimmt selbst Stellung zu den Ergebnissen der Beratungen der Synodenväter. Mit Blick auf den ganzen Prozess ist zu würdigen, dass erstmals in der Geschichte der Kirche die lebensweltlichen Themen der Ehe und Familie im Zentrum eines Reflexionsprozesses standen, der alle Ebenen der Kirche betraf – also von den Ortskirchen bis hin zum Kardinalskollegium. Im Ergebnis hat das zweifelsfrei zu einer weiteren Enttabuisierung der Debatten über den Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen oder Homosexuellen geführt, die Franziskus seit Beginn seines Pontifikats selbst angeregt hat.


Dementsprechend waren die Erwartungshaltungen an eine belastbare Versöhnung der Lebenswirklichkeit vieler Menschen mit dem Lehramt im Vornhinein sehr groß. Dennoch muss man bedenken: „Amoris Laetitia“ ist kein dogmatischer oder kirchenrechtlicher Text, der den Anspruch hat, an der katholischen Familienlehre Hand anzulegen. Es handelt sich um ein pastorales Lehrschreiben, das Orientierungsgrößen für den seelsorgerischen Umgang mit komplexen Problemen gibt. Das wird vor allem im achten Kapitel ganz deutlich, in dem es darum geht, die „Zerbrechlichkeit“ menschlicher Lebenswirklichkeiten zu begleiten, zu unterscheiden und in die Gemeinschaft der Gläubigen einzugliedern.

Die Liebe zwischen Mann und Frau bleibt auch nach dem neuesten päpstlichen Schreiben für viele konservative Kräfte der katholischen Kirche unangetastet. Auch Papst Franziskus bedenkt die Liebe zum gleichen Geschlecht nur in einer Fußnote. Homosexuelle sollten respektiert und toleriert werden – welchen Status sie in der Kirche einnehmen könnten, verschweigt auch der potenzielle Reformer unter den Päpsten. „Schon gar nicht skizziert der Papst eine Willkommenskultur für Homosexuelle in der Kirche, sondern wiederholt nur bequem das, was der Katechismus zum Thema Homosexualität zu sagen hat“, urteilt Julius Müller-Meiningen für DIE ZEIT.
Die Liebe zwischen Mann und Frau bleibt auch nach dem neuesten päpstlichen Schreiben für viele konservative Kräfte der katholischen Kirche unangetastet. Auch Papst Franziskus bedenkt die Liebe zum gleichen Geschlecht nur in einer Fußnote. Homosexuelle sollten respektiert und toleriert werden – welchen Status sie in der Kirche einnehmen könnten, verschweigt auch der potenzielle Reformer unter den Päpsten. „Schon gar nicht skizziert der Papst eine Willkommenskultur für Homosexuelle in der Kirche, sondern wiederholt nur bequem das, was der Katechismus zum Thema Homosexualität zu sagen hat“, urteilt Julius Müller-Meiningen für DIE ZEIT.

In welcher Tradition steht das Lehrschreiben des Papstes und wie schätzen Sie die Reaktionen darauf ein?


Miller: „Amoris Laetitia“ steht klar in Kontinuität zur Gesamtprogrammatik des Pontifikats von Franziskus und ist von einigen für ihn typischen Akzentuierungen geprägt. Schon zu Beginn klärt der Papst wörtlich, dass nicht alle doktrinären, moralischen oder pastoralen Diskussionen durch ein lehramtliches Eingreifen entschieden werden müssen. „Dezentralisierung“ ist also die breite Programmatik des Schreibens und damit ist eine bislang ungewohnte Freiheit der Ortskirchen gemeint. Man muss nun ortskirchlicherseits damit umgehen lernen, dass Einzelfall- und Gewissensprüfung – etwa mit Blick auf Ehenichtigkeit – als die zentralen Orientierungshorizonte des pastoralen Umgangs gelten.


Der Papst zeigt damit Verständnis und Anerkennung für die individuelle Situation der Menschen, jedoch reicht diese für seine Kritiker nicht weit genug. So hat etwa der Bund Deutscher Katholischer Jugend (BDKJ) das Lehrschreiben des Papstes vergangene Woche scharf kritisiert. Franziskus habe mit seinem Schreiben die Debatte nicht beendet, sondern „die Ortskirchen aufgefordert, jeweils eigene, passende Lösungen zu finden“, sagte der BDKJ-Bundesvorsitzende Wolfgang Ehrenlechner. Die Kirche sollte aber vielmehr „die Lebensrealitäten, Überzeugungen und die Gewissensentscheidungen junger Menschen“ anerkennen, fordert der BDKJ und benennt damit die Realität, dass viele Menschen die Normen und Sittlichkeit der katholischen Kirche bereits ohnehin nicht mehr einhalten, geschweige denn befolgen.


Konträr dazu verläuft die Kritik aus dem konservativen Lager, das auf die Einheit von Lehramt und seelsorgerischer Praxis besteht. Damit wird angefragt, ob „Amoris Laetitia“ den Einzelfall nun zu einem Prinzip erhebt und eine nicht hinreichend definierte Theologie der Barmherzigkeit als einziges Richtmaß gilt. In jedem Fall zeigt die öffentliche Diskussion den Ertrag des Schreibens als Ganzes, nämlich, dass Franziskus die streng normierten Kategorien zwischen regulärer und irregulärer Lebens- und Glaubenspraxis aufhebt und bereit ist, Kompromisse einzugehen.

Wie äußert sich Papst Franziskus zur Kommunion wiederverheirateter Geschiedener, zu Homosexualität und Verhütung?

Miller: Um es knapp zu sagen: In einer Fußnote. Über die Praxis der Eucharistie bei geschiedenen Wiederverheirateten ist seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) viel geschrieben und gedacht worden. Bisher war der kirchenrechtliche Status für wiederverheiratete Geschiedene eindeutig, nämlich, dass diese in einem objektiven Stand von schwerer Sünde leben. Papst Franziskus erklärt nun jedoch in seinem Lehrschreiben, dass die Lebenswirklichkeit des Einzelnen besser geprüft und wahrgenommen werden muss und dass in Einzelfällen auch die Hilfe der Sakramente – konkret gesprochen die der Eucharistie – in Anspruch genommen werden können. Es soll demnach eine Einzelfallprüfung vor Ort durch den zuständigen Priester erfolgen. Der Papst setzt hierbei vor allem auf die Inklusion von Menschen, die unverschuldet verlassen wurden.


Da insbesondere die Theologie der Familie im Zentrum des Schreibens steht, wird das Thema Homosexualität nur am Rande angesprochen. Der Papst plädiert für die Achtung der Würde homosexueller Menschen und fordert Respekt und Toleranz, ohne aber den Status dieser Orientierung innerhalb der Kirchengemeinschaft näher zu diskutieren. Kurz und knapp kritisiert Franziskus die geburtenfeindliche Mentalität besonders in der westlichen Welt. Doch auch das Thema Verhütung wird im Kontext von „Amoris Laetitia“ nicht weiter behandelt, sondern verbleibt mit einem Verweis auf die Enzyklika „Humanae Vitae“ von Papst Paul VI. eher im Status traditioneller Sozialverkündigung.

Auch wenn konservative katholische Kräfte vor den Worten des Papstes zittern, bringt auch Franziskus die Kirche nur langsam voran. Drei Jahre hat es gedauert, bis er sein Machtwort zu Ehe und Sexualität spricht. 300 Seiten umfasst das Schreiben, ist wenig konkret, sondern mehr beliebig, monieren Kritiker. Wiederverheiratete Geschiedene bleiben von der Kommunion ausgeschlossen, Abtreibungen pauschal verurteilt, Gender-Theorien missachtet. Bei der Sexualität hingegen setzt Franziskus vor allem auf das Gewissen, überlässt nationalen Bischofskonferenzen nun die genaue Auslegung moralischer, sexueller Normen. Für weitergehende Schritte fehlt Franziskus noch der Mut, doch für die Konservativen ist schon jetzt ein Albtraum Wirklichkeit geworden.
Auch wenn konservative katholische Kräfte vor den Worten des Papstes zittern, bringt auch Franziskus die Kirche nur langsam voran. Drei Jahre hat es gedauert, bis er sein Machtwort zu Ehe und Sexualität spricht. 300 Seiten umfasst das Schreiben, ist wenig konkret, sondern mehr beliebig, monieren Kritiker. Wiederverheiratete Geschiedene bleiben von der Kommunion ausgeschlossen, Abtreibungen pauschal verurteilt, Gender-Theorien missachtet. Bei der Sexualität hingegen setzt Franziskus vor allem auf das Gewissen, überlässt nationalen Bischofskonferenzen nun die genaue Auslegung moralischer, sexueller Normen. Für weitergehende Schritte fehlt Franziskus noch der Mut, doch für die Konservativen ist schon jetzt ein Albtraum Wirklichkeit geworden.

Franziskus widmet sich dem Thema der Sexualität, was mehr als ungewöhnlich scheint. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Miller: Auch wenn längst fällig, so ganz ungewöhnlich ist die Diskussion nicht. Auch Päpste vor Franziskus haben sich mit diesem Thema befasst. Benedikt XVI. schrieb in seiner Enzyklika „Deus Caritas Est“ folgendes über die Leiblichkeit: „Wenn der Mensch nur Geist sein will und den Leib sozusagen als bloß animalisches Erbe abtun möchte, verlieren Geist und Leib ihre Würde.“


Die offene Auseinandersetzung mit dem Thema in „Amoris Laetita“ ist zu begrüßen, aber auch nicht überzubewerten. Jochen Sautermeister, Professor für Moraltheologie in Bonn, kommentierte, dass die Anerkennung des Papstes für das Thema der Sexualität als wesentlicher Bestandteil des Menschen erfreulich sei, weil sie zu einer weiteren Entkrampfung der nur mit Zurückhaltung geführten Diskussion beiträgt.

An welcher Stelle hätten Sie sich mehr erwartet?


Miller: Wünschenswert wäre sicher eine intensivere theologische Deutung des Ehesakraments gewesen, um die Bedeutung desselben in zeitaktuellen Kontexten besser reflektieren zu können. Gerade die Theologie des Ehesakraments, welches übrigens das einzige ist, das sich die Eheleute wechselseitig spenden, wird in heutiger Zeit einer ernsteren Anerkennung bedürfen. Beispielsweise berichtet Eberhard Schockenhoff, Professor für Moraltheologie in Freiburg, aus seiner Erfahrung als Seelsorger, dass die Möglichkeit des Scheiterns der Ehe eine so fundamentale Angst für viele darstellt, dass die Brautleute bereits anfragen, ob man das Eheversprechen „bis dass der Tod uns scheidet“ nicht abwandeln kann in „ich will mich immer für das Gelingen unserer Beziehung einsetzen“. Indem das Scheitern schon von Vornherein mitbedacht ist, wird die Ambivalenz der Situation vieler Brautpaare klar. Dass das Ehesakrament gerade dieser Möglichkeit des Scheiterns das größere Heilsversprechen des Gelingens entgegenhält, bleibt im Glaubensverständnis vieler eher im Hintergrund. Zwar gibt „Amoris Laetitia“ die richtige Richtung vor, hier wird aber vor allem in der pastoralen Praxis künftig weitere Aufklärungsarbeit gefragt sein.

Titelbild: 

| Jörg Lohrer / flickr.com (CC BY 2.0)


Bilder im Text: 

| Takmeomeo / pixabay.com (CC0 Public Domain)

| festland / pixabay.com (CC0 Public Domain)


Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm

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