Bundestagswahl 2017

Groß, größer, Bundestag?

Die einzig sinnvolle Lösung zur Verhinderung der Vergrößerung des Bundestages muss darin bestehen, das Entstehen von Überhangmandaten von vornherein zu unterbinden.

Prof. Dr. Joachim Behnke
Lehrstuhl für Politikwissenschaft
 
  •  
    Zur Person
    Prof. Dr. Joachim Behnke

    Joachim Behnke ist Inhaber des ZU-Lehrstuhls für Politikwissenschaft. Er hat Theaterwissenschaft, Philosophie, Kommunikationswissenschaften, Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft studiert. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Wahlsystem und Wählerverhalten. Außerhalb der Universität engagiert sich Behnke als Sprecher verschiedener Arbeitskreise in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft und ist als Stiftungsberater tätig.  

  •  
    Mehr ZU|Daily
    Die Berliner Schulzfestspiele
    Frenetisch gefeiert wurde Martin Schulz am 19. März zum neuen Parteivorsitzenden gekrönt. Unter dem Motto „Zeit für Gerechtigkeit“ feierte die SPD vor allem ihr Personal. Florian Gehm hat die Inszenierung eines einzigen Wahlvorganges unter die Lupe genommen.
    Schluss mit dem sozialen Schlingerkurs
    „Nie war mehr Anfang als jetzt“. Das Sprichwort trifft auf keine deutsche Partei so zu wie auf die SPD. Es ist Zeit für mehr Anfang, für eine europäische Idee der Sozialdemokratie, für einen Kanzlerkandidaten Martin Schulz, meint ZU-Studierender Sven Liebert.
    Es ist Wahl und keiner geht hin
    Deutschland scheint dank Pegida und Blockupy auf den ersten Blick politisiert wie lange nicht. Gleichzeitig sinkt Wahlbeteiligung in Deutschland immer weiter. Professor Dr. Martin Elff über die zunehmende Nichtwählerschaft, taktisches Wahlverhalten und eine Häfler Feldstudie.
    Frau. Macht. Politik.
    Von Angela Merkel bis Malu Dreyer – in der ersten Reihe der Politik wimmelt es von Frauen. Doch dahinter blicken wir überwiegend in männliche Gesichter. Professor Joachim Behnke und Alumnus Jens Wäckerle verraten, woran's scheitert.
  •  
     
    Hä...?
    Haben Sie Fragen zum Beitrag? Haben Sie Anregungen, die Berücksichtigung finden sollten?
    Hier haben Sie die Möglichkeit, sich an die Redaktion und die Forschenden im Beitrag zu wenden.
  •  
    Teilen

Ende September steht die nächste Bundestagswahl an. Nachdem es in dieser Legislaturperiode zum ersten Mal Ausgleichsmandate gegeben hat und der Bundestag auf 630 Abgeordnete angewachsen ist, gibt es die Prognose, dass der Bundestag nach den kommenden Wahlen sich noch einmal deutlich vergrößern könnte. Können Sie noch einmal kurz beschreiben, wie Ausgleichsmandate entstehen?

Prof. Dr. Joachim Behnke: In der ersten Stufe der Verteilung von Sitzen nach dem neuen Wahlgesetz werden die regulär zu verteilenden 598 Sitze zuerst proportional nach den Bevölkerungszahlen auf die Länder verteilt, dann innerhalb der Länder auf die Listen der Partei, wieder proportional, dieses Mal nach den Zweitstimmen der Parteien. Durch diese Erstverteilung kommt es aber zu einem gewissen Disproporz, das heißt manche Parteien erhalten mehr Sitze, als sie eigentlich dürften. Um diesen Defekt auszugleichen, werden Ausgleichsmandate verteilt. Der Bundestag wird also solange vergrößert, bis die auf der ersten Stufe am stärksten bevorzugte Partei auch nach dem strengen Proporz im Verhältnis zu den Zweitstimmen genau die Anzahl von Sitzen erhält, die sie auf der ersten Stufe generieren konnte.

Der Vorschlag des Bundestagspräsidenten Norbert Lammert fand keine Mehrheit – wollte er vor seinem Ausscheiden aus dem Bundestag noch etwas im Wahlrecht bewegen, so scheint dies mittlerweile endgültig gescheitert. Er hatte vorgeschlagen, eine maximale Sitzanzahl des Bundestages von ungefähr 630 Sitzen festzulegen – bis dorthin würden Überhangmandate ausgeglichen, darüber hinaus nicht. In Zeiten, in denen die beiden „Hauptgewinner“ der Direktmandate, CDU/CSU und SPD, im Vergleich zu vorherigen Jahrzehnten über einen deutlich geringeren Anteil an Zweitstimmen verfügen und damit die Wahrscheinlichkeit von Überhangmandaten wächst, scheint die Idee der Begrenzung von Ausgleichsmandaten keine praktikable und einfach Lösung zu sein. Eine Lösung, die schlimmstenfalls zu ähnlichen Verzerrungen führen kann – wie die vorangegangene Regelung, bei der Überhangmandate gar nicht ausgeglichen wurden – und eventuell sogar über Regierungsmehrheiten entscheiden könnte.
Der Vorschlag des Bundestagspräsidenten Norbert Lammert fand keine Mehrheit – wollte er vor seinem Ausscheiden aus dem Bundestag noch etwas im Wahlrecht bewegen, so scheint dies mittlerweile endgültig gescheitert. Er hatte vorgeschlagen, eine maximale Sitzanzahl des Bundestages von ungefähr 630 Sitzen festzulegen – bis dorthin würden Überhangmandate ausgeglichen, darüber hinaus nicht. In Zeiten, in denen die beiden „Hauptgewinner“ der Direktmandate, CDU/CSU und SPD, im Vergleich zu vorherigen Jahrzehnten über einen deutlich geringeren Anteil an Zweitstimmen verfügen und damit die Wahrscheinlichkeit von Überhangmandaten wächst, scheint die Idee der Begrenzung von Ausgleichsmandaten keine praktikable und einfach Lösung zu sein. Eine Lösung, die schlimmstenfalls zu ähnlichen Verzerrungen führen kann – wie die vorangegangene Regelung, bei der Überhangmandate gar nicht ausgeglichen wurden – und eventuell sogar über Regierungsmehrheiten entscheiden könnte.

Welche Gefahr birgt dieser Mechanismus?


Behnke: Die wichtigste Ursache des Disproporzes auf der ersten Stufe sind die Überhangmandate. Diese entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erhält, als ihr dort nach ihren Zweitstimmen eigentlich zustehen würden. Der Bundestag muss dann eben solange vergrößert werden, bis diese Überhangmandate ebenfalls durch die Zweitstimmen der Parteien abgedeckt werden. Dies kann unter Umständen zu dramatischen Vergrößerungen des Bundestages führen. Die größte Gefahr geht hierbei von Überhangmandaten der CSU aus, da diese nur in Bayern antritt. Eine Überrepräsentation der CSU wird daher nicht durch eine normale Repräsentation in anderen Bundesländern abgemildert, wie es bei der CDU der Fall ist, zum zweiten aber ist die CSU bundesweit gesehen eine kleine Partei, so dass der Ausgleich besonders teuer wird. Für jeweils ein Überhangmandat der CSU muss der Bundestag um 13 bis 14 Mandate vergrößert werden. Erhielte die CSU beispielsweise sieben Überhangmandate, dann hätten wir eine Bundestagsgröße von knapp 700 Mandaten zu erwarten, also etwa 100 Sitze mehr als normal. Das wäre vermutlich ungefähr dann der Fall, wenn die CSU nur wenig mehr als 40 Prozent der Zweitstimmen erhält.

Was prognostizieren Wissenschaftler für die kommende Legislaturperiode? Was glauben Sie, wie der Bundestag aussehen wird?

Behnke: Meine eigenen Schätzungen auf der Basis der aktuellen Umfragen gehen derzeit von einer Größe des Bundestages zwischen 650 und 700 Sitzen aus. Das hängt eben davon ab, ob sich der Ausgleich am Ende eher an der CDU oder an der CSU orientieren wird.

Welche Kosten kämen auf den Steuerzahler zu – oder kann ein größerer Bundestag sogar Nutzen mit sich bringen?

Behnke: Die Kosten pro zusätzlichem Mandat für eine Legislaturperiode werden auf etwa zwei Millionen Euro geschätzt. Durch 100 zusätzlich Mandate entstünden also rund 200 Millionen zusätzlicher Kosten für das Parlament. Ein größerer Bundestag hat ansonsten sicherlich keine Vorteile, ganz im Gegenteil gehen die meisten Politiker davon aus, dass die Arbeit des Bundestages dadurch ineffizienter würde. Das war ja auch der Grund, dass man 1994 eine Verkleinerung des Bundestages von damals 656 auf heute 598 beschlossen hat, die ja dann ab 2002 umgesetzt wurde. Diese reguläre Sitzzahl wird aber inzwischen durch den Ausgleich zur Makulatur.

Fraglich bleibt aber auch, ob und wann eine Änderung des Wahlrechtes nach der Bundestagswahl gesetzt wird – schließlich würden dann jene, die vom jetzigen Wahlrecht direkt profitieren, den eigenen „Arbeitsplatz“ gefährden. Schließlich mahnte Lammert schon 2013 die Abgeordneten, „noch einmal in Ruhe und gründlich auf das novellierte Wahlrecht zu schauen“. Passiert ist in dieser Wahlperiode alles viel zu spät und ohne eine zufriedenstellende Lösung für alle Fraktionen. Vielleicht wird es auch Versuche geben, zunächst einfacheren Änderungen einen Raum zu geben – wie der Idee, das aktive Wahlrecht auf 16 Jahre zu senken und somit der Jugend eine stärkere Stimme bei Wahlen zu geben.
Fraglich bleibt aber auch, ob und wann eine Änderung des Wahlrechtes nach der Bundestagswahl gesetzt wird – schließlich würden dann jene, die vom jetzigen Wahlrecht direkt profitieren, den eigenen „Arbeitsplatz“ gefährden. Schließlich mahnte Lammert schon 2013 die Abgeordneten, „noch einmal in Ruhe und gründlich auf das novellierte Wahlrecht zu schauen“. Passiert ist in dieser Wahlperiode alles viel zu spät und ohne eine zufriedenstellende Lösung für alle Fraktionen. Vielleicht wird es auch Versuche geben, zunächst einfacheren Änderungen einen Raum zu geben – wie der Idee, das aktive Wahlrecht auf 16 Jahre zu senken und somit der Jugend eine stärkere Stimme bei Wahlen zu geben.

Welche Lösungen haben im Raum gestanden und warum konnte sich die Große Koalition dahingehend nicht einig werden?

Behnke: Wenn der Bundestag größer ist als notwendig, dann ist dies normalerweise ineffizient – zudem sind die zusätzlichen Kosten verschwendete Mittel. Das gilt aber natürlich nur unter der berühmten Ceteris-Paribus-Klausel, das heißt wenn der nicht vergrößerte Bundestag ansonsten alle seine Funktionen in gleicher Weise erfüllen würde. Vorschläge für eine Deckelung des Bundestages, wie sie vom Bundestagspräsidenten Norbert Lammert vorgelegt wurden, hätten aber zur Folge, dass die Chancengleichheit zwischen den Parteien wieder stark vermindert würde. Meine Schätzungen anhand der aktuellen Umfragen haben ergeben, dass für die Union durch das Lammert-Modell ein Vorteil von bis zu knapp 20 unausgeglichenen Überhangmandaten verbliebe. Der Vorschlag würde daher die CDU einseitig bevorteilen und ist daher nicht akzeptabel – außerdem wäre er sogar verfassungswidrig.

Welche Lösung hätten Sie für sinnvoll erachtet?


Behnke: Die einzig sinnvolle Lösung zur Verhinderung der Vergrößerung des Bundestages muss darin bestehen, das Entstehen von Überhangmandaten von vornherein zu unterbinden. Dazu müsste man aber die Wahlkreise neu zuschneiden, was sich aber in der aktuellen Legislaturperiode nicht mehr umsetzen lässt. Die Vergrößerung des Bundestages ist daher derzeit der notwendige Preis, den wir wohl zur Erhaltung der Chancengleichheit zwischen den Parteien bezahlen müssen. Es ist natürlich sehr bedauerlich, dass die Parteien hier nicht früher gehandelt haben, als noch Zeit dafür gewesen wäre. Aber eine unsinnige Reform kann auch nicht der Ausweg aus dem Schlamassel sein.

Brauchen wir gar ein neues Wahlrecht?


Behnke: Ja, natürlich, aus genau dem eben genannten Grund, dass eine nachhaltige Reform am Zuschnitt der Wahlkreise ansetzen muss. Eine solche Reform muss unbedingt in Angriff genommen werden. Das derzeitige Wahlgesetz wird früher oder später zu katastrophalen Ergebnissen führen, selbst wenn wir dieses Mal noch einmal mit einem blauen Auge davonkommen sollten.

Titelbild:

| BriYYZ / flickr.com (CC BY-SA 2.0), Link


Bilder im Text:

Gerd Seidel (CC BY-SA 3.0), Link

| Deutscher Bundestag / Simone M. Neumann (Bundestag Bilderdienst), Link


Redaktionelle Umsetzung: Alina Zimmermann

4
4
 
Leserbrief

Haben Sie Anmerkungen zum Beitrag?
Ihre Sichtweise ist uns wichtig! Der Leserbrief gelangt direkt in die Redaktion und wird nach Prüfung veröffentlicht.
Vielen Dank für Ihr Verständnis!

Antwort auf:  Direkt auf das Thema antworten

 
Zeit, um zu entscheiden

Diese Webseite verwendet externe Medien, wie z.B. Videos und externe Analysewerkzeuge, welche alle dazu genutzt werden können, Daten über Ihr Verhalten zu sammeln. Dabei werden auch Cookies gesetzt. Die Einwilligung zur Nutzung der Cookies & Erweiterungen können Sie jederzeit anpassen bzw. widerrufen.

Eine Erklärung zur Funktionsweise unserer Datenschutzeinstellungen und eine Übersicht zu den verwendeten Analyse-/Marketingwerkzeugen und externen Medien finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.