Fußball-Weltmeisterschaft 2014

Und plötzlich sind sie alle deutsch

Jede Mannschaft ist anders, jeder Trainer setzt einen anderen Akzent, jede Fangruppe hat ihre besonderen Eigenheiten. Wie Verteidigung und Angriff, Zusammenspiel und Alleingänge, Ballbesitz und Abspiel jeweils gepflegt und kombiniert werden, gibt jeder Mannschaft ein mehr oder minder unverwechselbares Gesicht. Und doch spielen alle dasselbe Spiel.

Prof. Dr. Dirk Baecker
Lehrstuhl für Kulturtheorie & -analyse
 
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    Zur Person
    Prof. Dr. Dirk Baecker

    Prof. Dr. Dirk Baecker ist Inhaber des ZU-Lehrstuhls für Kulturtheorie und –analyse. Der studierte Soziologe und Nationalökonom forschte und lehrte in Bielefeld, Wien, Kalifornien, Maryland und London und wurde 1996 an die Universität Witten/Herdecke auf den Lehrstuhl für Unternehmensführung, Wirtschaftsethik und sozialen Wandel berufen. 2000 folgte der Ruf auf den Lehrstuhl für Soziologie an derselben Universität und die Mitbegründung des Management Zentrums Witten.  

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Alle vier Jahre wird zur Fußball-WM wieder Flagge gezeigt. Ob hier geboren oder nicht - man könnte den Eindruck gewinnen, fast jeder ist für ein paar Wochen „Deutscher“. Woher kommt alle vier Jahre dieses starke Nationalgefühl?


Prof. Dr. Dirk Baecker: Aus kultursoziologischer Sicht ist das Nationalgefühl der Köder, sich wieder einmal auf ein viel interessanteres Spiel einzulassen, das Spiel der Weltkultur. Verblüffend ist doch, dass überall auf der Erde Fußball gespielt wird und dass wenige Regeln genügen, das Spiel scheinbar für alle gleich zu gestalten. Zugleich weiß man aber, dass es parallel zu dieser Gleichheit der Regeln eine beachtliche Vielfalt in der Frage gibt, wie dieses Spiel gespielt wird. Das beobachtet man ja auch auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene. Jede Mannschaft ist anders, jeder Trainer setzt einen anderen Akzent, jede Fangruppe hat ihre besonderen Eigenheiten. Wie Verteidigung und Angriff, Zusammenspiel und Alleingänge, Ballbesitz und Abspiel jeweils gepflegt und kombiniert werden, gibt jeder Mannschaft ein mehr oder minder unverwechselbares Gesicht. Und doch spielen alle dasselbe Spiel.

Vom Erfolgs-Fan bis zum eingefleischten Fußball-Fanatiker machen alle mit: Alle Jahre wieder versetzt die Fußball-Weltmeisterschaft die Bundesrepublik in einen Ausnahmezustand. Wer seine Leidenschaft wie auslebt, ist dabei allerdings ganz unterschiedlich.
Vom Erfolgs-Fan bis zum eingefleischten Fußball-Fanatiker machen alle mit: Alle Jahre wieder versetzt die Fußball-Weltmeisterschaft die Bundesrepublik in einen Ausnahmezustand. Wer seine Leidenschaft wie auslebt, ist dabei allerdings ganz unterschiedlich.

Baecker: Diese weltweit wiedererkennbare Kombination von Redundanz und Varietät (wie man in der Kommunikationstheorie sagt), die der Fußball aufweist, gibt es nur noch auf wenigen anderen Feldern. Man könnte die Popmusik nennen, den Markt, politische Ränkespiele, religiöse Sehnsüchte, den Tourismus. Der Fußball hat jedoch den Vorteil, dass man sich sehr viele Aspekte herausgreifen kann, über die man sich problemlos miteinander unterhalten kann, Aufstellungen, Spielerkarrieren, Statistiken, Gewinn und Verlust, und doch zugleich jene Vergleiche anstellen kann, die, man weiß gar nicht so recht warum, dann doch am meisten interessieren: Wie spielen die anderen dasselbe Spiel? Welche Eigenschaften sind es, die meiner Mannschaft den Erfolg oder Misserfolg in Aussicht stellen? Was können die anderen besser oder schlechter? Welche Rollen spielen der einzelne Spieler, die Mannschaft, der Trainer, der Schiedsrichter?


Hier ist sehr viel Spielraum für kleine Nuancen, die man auf dem Feld oder am Bildschirm beobachten kann, ohne sie thematisieren zu müssen, ja ohne auch nur zu bemerken, dass man sie beobachtet. Von der lokalen bis zur weltweiten Ebene spielt sich hier immer wieder dasselbe ab. Der Unterschied zwischen uns und den anderen wird getroffen und wird damit zugleich fließend. Und gleichzeitig gilt: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Die Beobachtung der Weltkultur im Medium des Fußballs steht immer wieder neu zur Debatte und man kann immer wieder so tun, als ginge es nur um die schönste Nebensache der Welt.

Ob olympische Spiele oder Europawahl - keine anderen Events erzeugen ein so starkes Nationalbewusstsein wie Fußball-Spiele. Warum funktioniert Patriotismus in Deutschland fast nur hier?


Baecker: Patriotismus ist in Deutschland eine Fragestellung, die sich von der Politik weitgehend gelöst hat. Man feiert eine kulturelle Diversität, die Fähigkeit, miteinander zu leben, ohne sich gegenseitig verdächtigen, verfolgen und vernichten zu müssen.

Fußball verbindet. Das beweist dieser Sport auch außerhalb der WM immer wieder. Auf der Berliner Fanmeile wehen neben deutschen auch viele türkische Fahnen und bei der Europameisterschaft 2010 feierten alle Besucher trotz 2:3-Niederlage für die Türken ein friedliches Fußballfest.
Fußball verbindet. Das beweist dieser Sport auch außerhalb der WM immer wieder. Auf der Berliner Fanmeile wehen neben deutschen auch viele türkische Fahnen und bei der Europameisterschaft 2010 feierten alle Besucher trotz 2:3-Niederlage für die Türken ein friedliches Fußballfest.

Die sonst eher „zurückhaltenden“ und „ordentlichen“ Deutschen kommen während der WM so richtig aus sich heraus. Geht es in anderen Ländern eigentlich genauso zu? Gibt es Länder, die eine besonders ausgeprägte Fan-Kultur haben?


Baecker: Ich würde den Volksfestcharakter der Begeisterung in Deutschland für die WM noch nicht für einen Beweis halten, dass die Deutschen "so richtig" aus sich herauskommen. Sich anzumalen, die Fanmeile in Berlin zu bevölkern, vor den Kneipen der Stadt die Möglichkeit des Public Viewing zu nutzen, gemeinsam zu hoffen, zu jubeln und zu verzweifeln, spielt sich in einem sehr gesitteten Rahmen ab. Hooligans haben interessanterweise kaum eine Chance, sich mit ihren Optionen für Randale hier durchzusetzen. Und das scheint mir in anderen Ländern ähnlich zu sein. Spannende Unterschiede gibt es in der Fankultur eher auf lokaler Ebene, etwa wenn man sich anschaut, welche individuell charakteristischen Pyrotechniken, Fangesänge und Konfettiregen auf welchen Stehplatztribünen jeweils gepflegt werden. Die nationale Begeisterung scheint mir hingegen gegenwärtig überall ähnliche Formen anzunehmen, Autokorsos, Trillerpfeifen, Stehparties. Und das ist der beste Beweis dafür, dass es sich nicht um nationale, gar nationalistische Phänomene handelt, sondern eben um ein Phänomen der Weltgesellschaft und Weltkultur. Man vergleicht sich, weil auch die anderen sich vergleichen.

Nicht nur in Europa wird Fußball dieser Tage gelebt. Auch in vielen anderen Ländern rund um den Globus werden Hüte und Fahnen für einen Monat entstaubt - so wie bei diesem Fußball-Fan aus dem Iran.
Nicht nur in Europa wird Fußball dieser Tage gelebt. Auch in vielen anderen Ländern rund um den Globus werden Hüte und Fahnen für einen Monat entstaubt - so wie bei diesem Fußball-Fan aus dem Iran.

Hat eine starke Fan-Kultur am Ende vielleicht auch Auswirkungen auf die Ergebnisse? Trumpfen Mannschaften mit einem ganzen Land im Rücken besonders auf oder versagen sie bei diesem hohen Druck eher?


Baecker: Wir haben es mit einer Dynamik wechselseitiger Steigerung zu tun. Keine Mannschaft der Welt kann ihr Spiel durchziehen und dabei gleichgültig gegenüber dem Umstand bleiben, ob sie vor vollen oder leeren, heimischen oder gegnerischen Rängen spielt. Das Publikum eines Stadions kann eine ungeheure Energie freisetzen oder eben auch vorenthalten, die einen unmittelbaren Einfluss darauf hat, ob einzelne Spielzüge inspiriert oder routiniert, mutig oder zögerlich, souverän oder trotzig eingeleitet werden. Diese Energie ist wie das Medium, in dem die Spieler einzeln und miteinander entweder zu ihrer Form auflaufen oder auch nicht. Allerdings gilt dann auch umgekehrt, dass dieses Medium von den Formen herausgefordert werden kann, die es zu sehen bekommt.


Das ist wie im Theater oder in einem Konzert oder auch in einer Vorlesung: Wenn das Publikum seine Rolle als Publikum nicht gut spielt, können die Darsteller nicht viel ausrichten. Aber wenn die Darsteller ihr Spiel so gut spielen, dass das Publikum mit wachsender Begeisterung in seine Rolle hineinwächst, werden auch die Darsteller immer besser. Beim Fussball stört halt ein wenig, dass nicht nur eine, sondern zwei Mannschaften auf dem Platz sind. Aber das gehört dazu. Es hat zur Folge, dass die Energie, die ein Spiel weckt, jederzeit umkippen kann. Man nennt das "Stimmung". Leider wissen Kultursoziologen nur wenig darüber, wie man Stimmungen pflegt, die umkippen können. Die alte Rhetorik weiß da mehr.


Man muss dem Publikum die Ambivalenz bieten, die es selbst am meisten fürchtet, und Zug um Zug die Lösung nachfüttern. Man muss den Gegner aufbauen, nicht abbauen. Und man muss das Spiel mit (!) dem Gegner so spielen, dass das Publikum mit Begeisterung folgt und man aus dieser Begeisterung neue Ideen bezieht. Hier sind drei, vier Kreisläufe positiver und negativer Rückkopplungen am Werk; deswegen ist jedes Spiel so unberechenbar, auch wenn die Statistik dann doch wieder Vergleichbarkeiten herstellt.

Doch es müssen nicht immer Hüte, Fahnen und Autokorsos sein - auch die kleinen Fan-Bekundungen trifft man während der Weltmeisterschaft häufig an. Und wer nicht mit Deutschland-Trikot ins Büro kommen darf, der lackiert sich wenigstens die Nägel in den Nationalfarben.
Doch es müssen nicht immer Hüte, Fahnen und Autokorsos sein - auch die kleinen Fan-Bekundungen trifft man während der Weltmeisterschaft häufig an. Und wer nicht mit Deutschland-Trikot ins Büro kommen darf, der lackiert sich wenigstens die Nägel in den Nationalfarben.

Den „National-Stolz“ aus der WM in den Alltag holen - wäre das erstrebenswert? Und wo könnten wir mehr oder weniger Nationalstolz im Alltag gebrauchen?


Baecker: Die WM ist eine Feier der Diversität, der Geschicklichkeit, des Spielglücks, der Begegnung und der Gemeinsamkeit eines weltweit wiedererkennbaren Interesses. Man muss sich ganz im Gegenteil sehr davor hüten, dies für einen Ausbruch des Nationalgefühls zu halten und für den Alltag oder die Politik nutzen zu wollen. Man wüsste ja auch kaum, was man denn nun in welchem Alltag mit einem Nationalstolz anfangen sollte. Was könnte man dann tun, was man andernfalls nicht tun könnte? Viel eher hat man ja den Eindruck, dass ein Nationalstolz im Alltag so sehr gezeigt werden müsste, dass man sehr schnell den Blick für die Vielfalt der Möglichkeiten verliert. Man müsste sich dauernd signalisieren, dass man neben allem anderen auch noch eine Deutsche, ein Deutscher ist. Das wird schnell anstrengend und kann auch nur im Medium von Stereotypen durchgehalten werden. Das kann ich mir nur in Situationen größten Stresses vorstellen, etwa im Fall eines Krieges. Und auch in der Politik ist ein Nationalstolz eher geeignet, die falschen Ratschläge zu motivieren als die richtigen. Es gibt kaum noch eine Frage von politischem Belang, die auf einer nationalen Ebene geklärt werden kann.


Nationalstolz ist daher in den meisten Fällen der falsche Ratgeber. Erforderlich ist er nur dort, wo es darum geht, zu beobachten, dass jenseits der Grenzen der eigenen Nation eine andere Nation zu finden ist, mit der es einen souveränen Umgang zu finden gilt. 2002 in Südkorea war die deutsche Mannschaft Zweiter, 2006 in Deutschland und 2010 in Südafrika jeweils Dritter. Der Nationalstolz, von dem wir hier reden, ist ohne den Respekt vor den anderen nicht zu denken. Es geht nicht ums Auftrumpfen, sondern ums Mitspielen. Der eigentliche und wirkliche Gewinner ist die Tabelle. Und das weiß auch die FIFA.

Fußballkultur ist nicht immer ein großes Freudenfest. Das zeigen gerade die harten, teils blutigen Bilder aus Brasilien im Vorfeld der Weltmeisterschaft. Doch auch beim Protest kommt den Brasilianern ihre Fankultur zu Gute - und so wird friedlich gegen die FIFA "gefeiert" und während der WM trotzdem fleißig mitgefiebert.
Fußballkultur ist nicht immer ein großes Freudenfest. Das zeigen gerade die harten, teils blutigen Bilder aus Brasilien im Vorfeld der Weltmeisterschaft. Doch auch beim Protest kommt den Brasilianern ihre Fankultur zu Gute - und so wird friedlich gegen die FIFA "gefeiert" und während der WM trotzdem fleißig mitgefiebert.

Eine persönliche Frage zum Schluss: Wie schauen Sie eigentlich die WM und sind Sie überhaupt Fußball-Fan? Wenn ja, wer wird eigentlich Weltmeister?


Baecker: Ich bin kein Fußballfan, aber spätestens im Achtelfinale einer WM erwischt es mich auch. Es hängt auch davon ab, welche Kommentatoren man jeweils am Fernsehbildschirm erlebt. Es können nicht immer der trockene Witz von Werner Schneyder oder die weiten Pässe von Günther Netzer sein, aber kluge Moderatoren steigern den Genuss doch ganz ungemein. Wer Weltmeister wird, ist offen. Gespräche zuhause ergeben, dass wir uns über einen Erfolg der Schweiz freuen würden, annehmen, dass die Italiener sich wieder irgendwie "durchmogeln" werden, auch Belgien neben der deutschen Mannschaft eine Chance hat, vermutlich aber und verdient der Gastgeber gewinnen wird.


Titelbild: Uwe Hermann / flickr.com
Bilder im Text: Gexon, agu2000_de, Frank M. Rafik, Retinafunk, malavoda / flickr.com

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