Bologna-Reform

Jeden Tag vergieße ich eine Träne...

von Thomas Sattelberger
10.09.2012
Die Reform der Postleitzahlen wurde in den 90er Jahren mit mehr Perfektion vorbereitet und liebevoller umgesetzt als der Bologna-Prozess.

Thomas Sattelberger
 
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    Zur Person
    Thomas Sattelberger

    Thomas Sattelberger verfasste diesen Beitrag in seiner Funktion als Vorsitzender des Arbeitskreises Hochschule/Wirtschaft der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, des Bundesverbands der Deutschen Industrie und der Hochschulrektorenkonferenz. Zudem ist Thomas Sattelberger Vorstandsvorsitzender der ZU-Stiftung, der Trägerstiftung der Zeppelin Universität.

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    Factbox
    Bologna-Prozess

    Der Hochschulrefomprozess, der hinter dem Begriff des Bologna-Prozesses steht, wurde 1999 im italienischen Bologna angestoßen. Heute wirken laut dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mittlerweile 47 Staaten sowie die EU-Kommission und acht weitere Organisationen im Hochschulbereich mit. Erreicht werden solle mittels eines partnerschaftlichen Ansatzes dreierlei: stärker international akzeptierte Hochschulabschlüsse, bessere Qualität von Studienangeboten und bessere Beschäftigungsfähigkeit von Absolventen.

    Umsetzung der Reform in Deutschland

    Zum Wintersemester 2011/2012 waren rund 85 Prozent aller Studiengänge an deutschen Hochschulen laut dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) auf die gestufte Studienstruktur umgestellt. Somit seien 13.000 von 15.300 Studiengängen bereits erneuert worden und insbesondere an den Fachhochschulen sei die Umstellung gemäß BMBF schon so gut wie abgeschlossen. Der Großteil der nicht umgestellten Studiengänge an den Universitäten führe zu staatlichen oder kirchlichen Abschlüssen, heißt es.

    Medienecho

    Großes Medienecho gab es im August 2012 für die Bologna-Kritik des Präsidenten der Deutschen Rektorenkonferenz (HRK), Prof. Dr. Horst Hippler. Die HRK hat den Widerhall zusammengetragen.

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Zehn Jahre nach Einführung der neuen Hochschulabschlüsse Bachelor und Master hat die Spitze der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) in den vergangenen Wochen in der Presse wortgewaltig und antireformerisch Stimmung gegen den Bologna-Prozess gemacht. Damit hat die HRK-Spitze ihren Anspruch, „Die Stimme der Hochschulen“ zu sein, aufgegeben. Die HRK wird zum Sprachrohr des Verbandes der neun Technischen Universitäten „TU9“ instrumentalisiert, obwohl die überwiegende Zahl der Hochschulen seit Jahren konsequent den schwierigen Reformweg geht. Einer der ehemaligen TU-Präsidenten verstieg sich sogar zu der Aussage, er vergieße jeden Tag eine Träne für den Diplom-Ingenieur.

Diesen elitär gestrickten Befürwortern einer Wiedereinführung des Titels „Dipl.-Ing.“ ist entgegenzuhalten, dass sich der gute Ruf der Ingenieurausbildung in Deutschland vor allem aus der Arbeit der ehemaligen staatlichen Ingenieurschulen und Fachschulen, den heutigen Fachhochschulen, speist. Diese bilden heute mit Erfolg rund 70 Prozent aller Ingenieur-Absolventen – Bachelor und Master – aus. Die TU9 monopolisieren jetzt dieses hervorragende Renommee für ihre Minderheitspolitik gegen die Bologna-Reform.

Jetzt muss ich jeden Tag eine Träne vergießen, denn bisher haben sich HRK und Arbeitgeber im Konsens für eine gute Umsetzung der Bologna-Reform stark gemacht. Der Schwenk der HRK-Position stellt diesen Konsens in Frage. Drei Themen stehen dabei im Mittelpunkt: die Berufsqualifizierung sowie die Persönlichkeitsentwicklung der Bachelorabsolventen und die internationale Mobilität innerhalb der zweistufigen Studienstruktur.

Bologna-Prozess


Reformangst beflügelt Angstmache

Zur Berufsbefähigung: Die Bachelorabsolventen sind voll auf dem Arbeitsmarkt angekommen. Ich selbst habe bei Lufthansa, Continental und Telekom hundertfach erlebt, wie hervorragend sich Absolventen sowohl aus dualen Bachelorstudiengängen als auch direkt von der Hochschule fachlich und persönlich integriert haben. Hinter der Angstmacherei verbergen sich bildungsbürgerlich-elitäre Vorbehalte, hochgeistige Bildung und schnöde Ausbildung seien unvereinbar. „Es gibt nichts praktischeres als eine gute Theorie“, so beispielsweise das Credo der Zeppelin Universität zur Integration von Forschungs- und Phänomenorientierung bereits im Bachelorstudium.

Als fatales Zusatzprodukt dieser Reformangst hat sich der Studienabbruch als „Haupt-Abschluss“ der Universitäten etabliert: Im Durchschnitt brechen hier 35 Prozent der Bachelorstudierenden ihr Studium ab, an den Fachhochschulen 19 Prozent. Dramatisch hoch ist die Zahl der Universitäts-Abbrecher in den Fächern Maschinenbau und Elektrotechnik mit jeweils 53 Prozent. Jeden Tag müsste man Tränen um Milliarden Euro an Fehlinvestitionen und Zehntausende zerbrochener Hoffnungen junger Menschen vergießen. Denn Studienabbrecher sind entweder schlecht ausgewählt oder schlecht betreut – letzteres auch im Sinne schlechter Lehre. Die Verantwortung dafür liegt ganz klar bei Hochschulen und Lehrenden.

Gute Lehre fristet ein Schattendasein

Der HRK-Spitze halte ich zum zweiten entgegen, dass Persönlichkeitsentwicklung nicht eine Frage der Studiendauer, des Alters oder gar der Art des Hochschulabschlusses ist. Persönlichkeit und überfachliche Kompetenzen wie Teamfähigkeit, Kommunikationskompetenz und Selbstreflexion, die für den beruflichen Erfolg entscheidend sind, entwickeln sich in inhaltlich anregenden, didaktisch gut aufbereiteten und interaktiv gestalteten Lehrveranstaltungen anstatt in Frontalbeschallung. Immer noch fristet gute Lehre jedoch ein Schattendasein weit hinter der Forschung. Berufungen erfolgen anhand der Länge der Publikationsliste, Qualität in der Lehre ist – wie Studien und Studentenbefragungen belegen – zweitrangig. Jeden Tag vergieße ich eine Träne um die vielen Studierenden, die nicht von guter Lehre inspiriert und für ihr Fach begeistert werden.

Umsetzung der Reform in Deutschland


Inflexibilität hindert Mobilität

Es ist zum Dritten nicht richtig, dass die internationale Mobilität durch Bologna gesunken ist. Die Mobilität der Bachelorstudierenden an den Fachhochschulen hat sich deutlich verbessert, die an den Universitäten deutlich verschlechtert – was dies über die Reformfähigkeit des jeweiligen Systems aussagt, möge jeder selbst befinden. Die Hochschulen haben es den Studierenden schon immer schwer gemacht, ins Ausland zu gehen. Durch rigide Anerkennungsregeln, mangelnden Pragmatismus und fehlende Großzügigkeit von Hochschulen wird Mobilität bestraft. Jeden Tag vergieße ich eine Träne um die vielen Studierenden, die durch Inflexibilität von einer solchen interkulturellen Erfahrung ferngehalten werden. Bei den internationalen Studierenden ist die Studienabbruchquote mit 46 Prozent fast doppelt so hoch wie bei ihren deutschen Kommilitonen. Was sagt das über Mobilität und Betreuungsqualität aus, wenn fast die Hälfte der internationalen Studierenden ihr Studium in Deutschland abbricht? Darüber spricht die HRK-Spitze nicht.

Umfassende Einbindung der Stakehholder fehlt

Die Bologna-Reform ist eben nicht nur eine strukturelle Reform und eine Reform der Studieninhalte, sie ist auch und gerade eine soziale Reform. Sie bietet mehr jungen Menschen einen Zugang zu akademischer Bildung, inzwischen studiert mehr als die Hälfte eines Altersjahrgangs. Bologna hat damit für mehr Bildungsgerechtigkeit gesorgt. Und wenn sich insbesondere die Universitäten einen Ruck zu berufsbegleitenden Studiengängen gäben, wäre dies auch ein Beitrag zur wissenschaftlichen Bildung von Berufstätigen. Eine solche komplexe soziale Reform braucht aber umfassende Einbindung, insbesondere der Studierenden, und proaktives Engagement der Stakeholder. Hieran hat es gemangelt. Vor über zehn Jahren hat die Politik den Hochschulen die Reform wie eine tote Katze über den Zaun geworfen. Die meisten Hochschulen haben sie damals links liegengelassen. Und dann, als es drängte, haben viele Hochschulen den Studierenden schlecht reformierte Studiengänge ebenfalls über den Zaun geworfen. Die Studierendenproteste im Jahr 2009 waren die logische Folge. Die Reform der Postleitzahlen wurde in den 90er Jahren mit mehr Perfektion vorbereitet und liebevoller umgesetzt als der Bologna-Prozess.

Die deutschen Arbeitgeber haben seit fast einem Jahrzehnt mit der Initiative „Bachelor Welcome“ konsequent Kurs gehalten, um der Bologna-Reform trotz schlechter Einführung zum Erfolg zu verhelfen. 2004 habe ich persönlich die erste Bachelor-Welcome-Erklärung der deutschen Personalvorstände für die Continental AG unterzeichnet. Alle Unterzeichner der Erklärungen 2004, 2006, 2008, 2010 und jetzt bald 2012 haben neben ihrem Bekenntnis zum Bachelor auch deutlich die Reformdefizite wie mangelnden Praxisbezug des Studiums und fehlenden Fokus auf überfachliche Kompetenzen benannt.

Den Reformgegnern von heute halte ich entgegen: Euer Bologna-Bashing macht nichts besser. Es ist ein Kinnhaken für die vielen engagierten Reformer an den Hochschulen. Und es verunsichert in hohem Maße die junge Generation, die mit Optimismus und Freude studieren soll. Wissen die Fundamentalkritiker, welchen Flurschaden sie hier und jetzt anrichten? Meine Herren – Damen sind ja kaum darunter! Kommt wieder zur Besinnung, tragt Mitverantwortung, die Bologna-Reform besser zu machen.

Medienecho


Hinweis der Redaktion:
Dieser Beitrag ist am Donnerstag, 13.09.2012, in leicht modifizierter Version im Handelsblatt erschienen.


Bild: flickr.com/James Cridland

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Leserbrief
Tränen müssen nicht sein
Maximilian Locher | 21.09.2012

Oh oh. Bei all diesen Forderungen zieh ich mal den Kopf ein. Ich sehe es in erster Linie als meine Aufgabe an, die vorhanden Strukturen mit meiner wissenschaftlichen Arbeit und meinem Lernen zu füllen und die Uni auch außer-curriculär mit Leben zu füllen. Ebenso ist es keinesfalls Aufgaben von Professoren und Dozenten eine Reform wie die Bologna-Reform im klein klein zu Recht zu biegen. Die einzige Möglichkeit, auf Schwierigkeiten hinzuweisen, die Wissenschaftler im neuen System mit ihrer Profession haben, sind eben solche Hochschullehrerkonferenzen, Zeitungskommentare oder andere massenmediale Kommunikationsversuche. Für Menschen, die auf die kollektiv bindenden Entscheidungen in der Wissenschafts- und Bildungspolitik Einfluss haben, müssen Sie als das wahrgenommen werden was sie sind. Die kritischen Rückkopplungen von Wissenschaftlern und Studierenden aus dem System Wissenschaft, welche es erst ermöglichen werden, diese Reform auf einer neuen Informationslage zu wirklichem Erfolg zu führen. Dann würden all unsere Augen von nunmehr an trockener bleiben;)

Doch da dies noch nicht geschehen, muss auch ich eine Träne vergießen. Eine Träne für all die Studienabbrecher. Es werden weiterhin mehr werden. Das liegt aber weder an den jungen Menschen, noch an der Auswahl durch die Universitäten und Hochschulen. Es liegt vielmehr daran, dass unser Bildungssystem und die gesamte Jugendpolitik in eine seltsame Hast verfallen sind. Mit spätestens 6 in die Schule, auf keinen Fall mehr als 8 Jahre auf dem Gymnasium, kein Zivildienst mehr und dann mit möglichst vielen Praktika ausgestattet nach drei Jahren pseudo-wissenschaftlichen Studiums mit 21 auf den Arbeitsmarkt. Irgendwo werden in diesem Rush Fehlentscheidungen getroffen. Und die sind verständlich. Denn Jugend braucht wieder Zeit und Raum sich selbst kennen zu lernen. Natürlich profitieren Wirtschaft und Sozialsysteme auf einen ersten Blick davon, wenn Abgänger immer jünger werden. Der Preis dafür sind aber hohe Abbruchquoten und Menschen, die ihre Berufswahl schon früh bereuen. Das ist nicht zufriedenstellend im Angesicht der Herausforderungen denen sich Jugend heute ausgesetzt sieht.


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