Wissenschafts(miss)verständnis

Die Rückkehr des Schnitzeljägers

Die Vorstellung, wissenschaftlicher Erkenntnisfortschritt ähnele einem 1000-Teile-Puzzle, von dem man bereits 999 besitzt, dessen Bild aber trotzdem erst durch das „Finden“ des letzten Stückes vervollständigt wird, ist gerade in den Sozialwissenschaften einigermaßen bizarr.

Dr. Alexander Ruser
Vertretungsprofessor | Lehrstuhl für Kulturtheorie und -analyse
 
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    Zur Person
    Dr. Alexander Ruser

    Alexander Ruser vertritt seit Januar 2016 den Lehrstuhl für Kulturtheorie und -analyse. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Soziologie und promovierter wissenschaftlicher Mitarbeiter für den Bereich „Global Institutional Development“ am Max-Weber-Institut für Soziologie der Universität Heidelberg. Nach Forschungsaufenthalten in Südkorea und Japan wechselte er als Dahrendorf Fellow an die Hertie School of Governance in Berlin. 2013 war Alexander Ruser Visiting Dahrendorf Fellow an der London School of Economics and Political Science, bevor er im Januar 2014 als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Habilitand an den Karl-Mannheim-Lehrstuhl für Kulturwissenschaften kam.
    Im Dezember 2015 wurde die Habilitationsschrift „Science in Society: Implications for the Sociology of Knowledge and a Social Philosophy of Science“ fertiggestellt.
    Alexander Ruser ist aktives Mitglied im internationalen Forschungsnetzwerk „A Social Philosophy of Science“ der russischen Akademie der Wissenschaften und Mitinitiator der Forschungsinitiative „Think Tanks in the Knowledge Society“ (Kooperation mit der Deutschen Universität Speyer und der Technischen Universität Chemnitz).  

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Ich kann das Straßenschild in der einsetzenden Dämmerung kaum lesen. Hinter mir versinkt die Sonne über den grünen Berggipfeln, sendet letzte, schwache und doch gleichzeitig blendende Strahlen über die düster-romantische Ruine, die das Blickfeld, ja die ganze darunter liegende Stadt, beherrscht. „Z“, der erste Buchstabe auf dem Straßenschild ist ein „Z“. Kann das ein Zufall sein? „Zarathustra“, „Zenons Pfeil“, „Zorro“: Viele, zu viele (?) Bedeutungen gehen mir durch den Kopf. Doch halt. Im rötlichen Licht der Abendsonne wird das ganze Schild lesbar. Das erste Wort ist, ja, „Ziegelhäuser“. Das zweite „Landstraße“. Mir stockt der Atem. Wie lange habe ich nach diesem Ort gesucht. Wenn jetzt noch die Hausnummer stimmt. Sie ist es. Die 17 ausgerechnet. Haben Robert Anton Wilson und Robert Shea in ihrer Illuminatus!-Trilogie nicht eindringlich die Bedeutung der 17 enthüllt. Kein Zweifel, ich bin am Ziel: Ziegelhäuser Landstraße 17, Heidelberg: das Max-Weber-Haus. Nur Minuten später stehe ich vor dem alten Foto. Es zeigt den Geistes-Hero neben einer Frau. Nicht seiner Frau. Das ist Else Jaffé. Meine Knie werden weich. Plötzlich ergibt alles einen Sinn. Else Jaffé, geboren von Richthofen. Wie Manfred von Richthofen, der rote Baron. Rot! So wie der Rote Platz. Ist rot nicht die Farbe des Kommunismus? Natürlich! China ist nominell kommunistisch. Das kann alles kein Zufall sein! Ich muss mich an der Wand abstützen. Die Kühle des Gemäuers wirkt beruhigend. Aber soll ich mich wirklich beruhigen? Kann das wahr sein, bin ich einer Verschwörung auf der Spur, einem Geheimnis, das vom berühmten Heidelberger Schloss (erbaut aus – natürlich – rotem Sandstein) und Max Weber über das Grauen des Ersten Weltkrieges, der kommunistisch-bolschewistischen Revolution (Anastasia!) bis hin zur neuen Weltordnung mit dem roten (!) China an der Spitze am Wirken ist?

Max Weber, der Indiana Jones der Sozialwissenschaftler? Zumindest in Betracht seiner Beziehung zu Else Jaffé. Er bezeichnet sie als „Wildkatze“, die ihn auch mal kratzt und beißt, wenn er sich anders als gewünscht verhält, der er sich unterwirft. So schreibt Weber in einem Brief: „ach sind, Gott sei Dank, ... Deine Zähne auf meinem rechten Arm noch zu sehen – aber vor Allem weiß der Nacken, was ihm da mit Recht passiert ist.“ Else selbst hingegen ist echte Pionierin, eine der ersten Sozialwissenschaftlerinnen Deutschlands. Doch nicht nur mit Max Weber verband sie eine Beziehung – auch andere Intellektuelle wie Otto Gross und Alfred Weber zählten zu ihren Partnern.
Max Weber, der Indiana Jones der Sozialwissenschaftler? Zumindest in Betracht seiner Beziehung zu Else Jaffé. Er bezeichnet sie als „Wildkatze“, die ihn auch mal kratzt und beißt, wenn er sich anders als gewünscht verhält, der er sich unterwirft. So schreibt Weber in einem Brief: „ach sind, Gott sei Dank, ... Deine Zähne auf meinem rechten Arm noch zu sehen – aber vor Allem weiß der Nacken, was ihm da mit Recht passiert ist.“ Else selbst hingegen ist echte Pionierin, eine der ersten Sozialwissenschaftlerinnen Deutschlands. Doch nicht nur mit Max Weber verband sie eine Beziehung – auch andere Intellektuelle wie Otto Gross und Alfred Weber zählten zu ihren Partnern.

Die Antwort ist natürlich: nein. Und die kleine Skizze ist nicht nur schlechte Prosa, sondern auch ein haarsträubender Unsinn voller logischer Fehler und Lücken in der Argumentation. Kurzum: Wäre mein Name Dan Brown, wäre es ein Besteller und würde ganz sicher mit Tom Hanks in der Hauptrolle verfilmt (vielleicht sogar in 3D).


Nun ist es sicher nicht mein Ziel, mich über die literarische Qualität von Dan Brown zu verbreiten. Das kann und will ich nicht tun. Die Leute sollen und können zur Unterhaltung lesen (und gucken), was sie wollen. Insofern ist mir auch der Inhalt des im Oktober anlaufenden Kinofilms „Inferno“ herzlich egal. Der Film wird bestimmt ein Kassenschlager, und immerhin kommen weder Superhelden in Spandex-Kostümen noch Jedi-Ritter darin vor. Es liegt mir auch fern, die von Dan Brown behandelten Inhalte zu kritisieren – zu diesem Thema hat Umberto Eco schon vor zehn Jahren alles – und besser als ich es könnte – gesagt. Was mich wirklich stört, ist das von Dan Brown transportierte und dann vielleicht auch von den Lesern und Kinobesuchern übernommene Wissenschaftsverständnis.

Robert Langdon, Dan Browns Held, Professor für Symbologie (sic!) und praktisches Plagiat von Indiana Jones, findet sich in jedem seiner Abenteuer in der gleichen Szenerie wieder. Das Setting ist immer identisch, und es ist dem Leser oder Zuseher seit den eigenen Kindergeburtstagen bekannt: die Schnitzeljagd. Genau wie die Schnitzeljagd mit Kindern, muss auch der Symbologe eine Reihe von Hinweisen finden, die anfallenden Rätsel lösen und – die äußerst knappe Zeit läuft – zum nächsten Hinweis gelangen, bis am Ende das Geheimnis gelüftet und die Jagd beendet werden kann. Wissenschaftliches Wissen oder Wissen ganz allgemein tritt dabei als „Vorrat“ auf, mit dessen Hilfe es möglich ist, die desparaten Hinweise zu verbinden, ein Bild zu vervollständigen und so „die Wahrheit“ zu enthüllen.


Das Problem ist zunächst natürlich, dass eine solche Beschreibung wissenschaftlichen Arbeitens und dem daraus resultierenden wissenschaftlichen Fortschritts schlichtweg falsch ist. Auch wenn Alfred Tauber in den 90er-Jahren Wissenschaft als „quest for reality“ beschrieben hat, geht das wissenschaftliche Arbeiten doch weit über das Füllen weißer Flecken auf der Landkarte hinaus. Stuart Firestein zum Beispiel sieht die Hauptaufgaben der Wissenschaft nicht so sehr im Finden von Antworten, sondern im Aufwerfen von Fragen. Es ist seltsam, dass die Wissenschaftstheorie durchaus erfolgreich elaborierte Modelle wissenschaftlichen Arbeitens und wissenschaftlichen Fortschritts entwickelt hat, während das Alltagsverständnis noch immer – und durch Geschichten wie die von Dan Brown – der Formel folgt:


(Bücher-)Wissen + einmalige Entdeckung = des Rätsels Lösung

Robert Langdon hat es in Dan Browns Büchern immerhin zum Harvard-Professor mit fotografischem Gedächtnis geschafft. Als Wissenschaftler für religiöse Ikonografie und Symbolik kann er seine Forschungen nicht im dunklen Keller oder Büro durchführen, sondern jettet um die Welt. Er kämpft im Vatikan gegen die Illuminati, jagt den Heiligen Gral oder versucht, einen Virenausbruch zu verhindern – klassische Forschung also. Um die Welt das Wissenschaftlerleben doch nicht allzu ernst zu nehmen (und öfter zu lachen), trägt er übrigens immer eine Micky Maus-Uhr mit sich herum.
Robert Langdon hat es in Dan Browns Büchern immerhin zum Harvard-Professor mit fotografischem Gedächtnis geschafft. Als Wissenschaftler für religiöse Ikonografie und Symbolik kann er seine Forschungen nicht im dunklen Keller oder Büro durchführen, sondern jettet um die Welt. Er kämpft im Vatikan gegen die Illuminati, jagt den Heiligen Gral oder versucht, einen Virenausbruch zu verhindern – klassische Forschung also. Um die Welt das Wissenschaftlerleben doch nicht allzu ernst zu nehmen (und öfter zu lachen), trägt er übrigens immer eine Micky Maus-Uhr mit sich herum.

Besonders für die Sozialwissenschaften – etwa meine Disziplin, die Soziologie – ist das nicht nur ärgerlich, sondern vielleicht sogar schädlich. Als empirischer Sozialforscher, der ich nun mal bin, stehe ich regelmäßig vor der Aufgabe, interessante Forschungsfragen im Lichte bestimmter Theorien zu betrachten und dann nach Wegen zu suchen, die Fragen beantworten zu können. Es geht also um die Modellierung und Operationalisierung von Forschungsfragen. Meiner Meinung nach gilt das übrigens nicht nur für empirische, sondern auch für theoretische Arbeiten. In jedem Fall könnte die Arbeit des Sozialwissenschaftlers nicht viel weniger mit der kunsthistorischen Schnitzeljagd eines Robert Langdon gemeinsam haben. Natürlich ist ein „Wissensvorrat“ absolut nötig – beispielsweise um empirische Fragen in der Sprache der eigenen Disziplin fassen zu können. Die Vorstellung, wissenschaftlicher Erkenntnisfortschritt ähnele einem 1000-Teile-Puzzle, von dem man bereits 999 besitzt, dessen Bild aber trotzdem erst durch das „Finden“ des letzten Stückes vervollständigt wird, ist gerade in den Sozialwissenschaften einigermaßen bizarr.


Im Vergleich zum Wissenschaftsverständnis von Dan Brown muss die sozialwissenschaftliche Arbeit enttäuschen – ähnlich wie der Archäologe, der nicht auf der Suche nach der Bundeslade durch vergessene, durch Fallen und Rätsel geschützte Tempel schleicht, enttäuschen. Und in diesem Sinne ist die Darstellung des Bestsellerautors nicht einfach nur falsch, sondern möglicherweise schädlich. Wenn Kulturwissenschaftler nicht den Da-Vinci-Code knacken, Politologen keine Komplotte aufdecken und Soziologen lieber Gesellschaften als Geheimgesellschaften verstehen wollen (obwohl manch berühmter Vertreter des Faches wie Georg Simmel beides im Sinne hatte), besteht die Gefahr, dass sie als „langweilig“ oder „ergebnislos“ erscheinen. Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass sie dies nur im Lichte eines falschen Verständnisses von Wissenschaft wären, einem Verständnis, das die „quest for reality“ mit einer Schnitzeljagd verwechselt.

Natürlich sind alle in diesem Text enthaltenen Fakten wirklich wahr. Else Jaffé war wirklich eine geborene von Richthofen und eine historisch interessante Figur. Nicht wegen ihren Affären mit Max Weber, seinem Bruder Alfred und – so munkelt man – auch mit Max Webers Frau Marianne. Schon eher, weil sie als eine der ersten Frauen an der Universität Heidelberg studierte (und bei Max Weber promovierte) und mit Fug und Recht als frühe Ikone des Feminismus in Deutschland bezeichnet werden kann. Nichts davon ist geheimnisvoll oder rätselhaft. Dafür aber Gegenstand sozialhistorischer Forschung...

Titelbild:

Steven Johnson / flickr.com (Public Domain Mark 1.0)


Bilder im Text:

| Droste Verlag

| ben.harris / flickr.com (CC BY 2.0)


Beitrag (redaktionell unverändert): Dr. Alexander Ruser
Redaktionelle Umsetzung: Alina Zimmermann

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