Ein Beitrag aus dem Sommerloch

Tröpfelt Regen aufs Gehirn, nimmt jeder seinen Ego-Schirm

Was an den Schirmträgern irritiert, ist nicht so sehr dieser prätentiöse Individualwetter-Selbstbestimmungswahn, sondern vielmehr die gern übersehene Tatsache, dass unter ihm auch immer alle anderen leiden müssen.

Dr. Joachim Landkammer
Lehrstuhl für Kunsttheorie und Inszenatorische Praxis
 
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    Zur Person
    Dr. Joachim Landkammer

    Dr. Joachim Landkammer wurde 1962 geboren und studierte in Genua und Turin. Nach seinem dortigen Philosophiestudium, abgeschlossen mit einer Arbeit über
    den frühen Georg Simmel und einer ebenfalls in Italien durchgeführten Promotion über den Historikerstreit, hat Joachim Landkammer als Assistent und wissenschaftlicher Mitarbeiter von Prof. Dr. W. Ch. Zimmerli an den Universitäten Bamberg, Marburg und Witten/Herdecke gearbeitet. Seit 2004 ist er Dozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Zeppelin Universität und Verantwortlicher des ZU-artsprogram für den Bereich Musik.

    Joachim Landkammer arbeitet neben seiner Lehrtätigkeit und einer gewissen journalistischen Textproduktion an verschiedenen interdisziplinären Themen in
    den Anwendungs- und Grenzbereichen der Philosophie, der Ästhetik und der Kulturtheorie. Ein dezidiertes Interesse gilt dem Dilettantismus und der Kunst- und Musikkritik.  

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Natürlich wird er vor allem jetzt im Sommer für unverzichtbar gehalten, weil man sich für den kleinen Regenschauer zwischendurch doch nicht gleich umziehen will: Da kommt das altbewährte Aufklappgerät zu seinem Einsatz; schwupp, ist der erfindungsreich zusammengefaltete Schirm aufgespannt und man hat für seinen Körper einen metereologischen Ausnahmebereich geschaffen, in dem von oben kommen kann, was mag: Die eigenen Löckchen und Härchen hat man schnell ins Trockene gebracht. Vor allem im Sommer geht es offenbar um so etwas wie Gesichtswahrung: In der künstlich regenfrei gehaltenen Zone unter dem Schirm lässt sich den Wetterallüren trotzen, entspannt und gelassen schaut man weiter unbeschwert-sommerlich darunter hervor und lässt sich nichts anhaben – und wenn die ganze Welt außen herum in Nässe und Morast versinkt: Man selbst hält stand, weil man der Natur und ihrem so unverschämt herunterprasselnden Himmelsgewölbe einen kleinen selbstgebauten Privathimmel entgegenhält, der jenes weiterhin trockene Wetter liefert, das man offenbar eindeutig für der eigenen Würde angemessener hält.

So viel sommerlicher Platz wäre da noch unter dem Schirm: Aber, scheint die schnippische junge Dame zu sagen, den brauche ich ganz für mich allein.
So viel sommerlicher Platz wäre da noch unter dem Schirm: Aber, scheint die schnippische junge Dame zu sagen, den brauche ich ganz für mich allein.

Was an den Schirmträgern irritiert, ist nicht so sehr dieser prätentiöse Individualwetter-Selbstbestimmungswahn, sondern vielmehr die gern übersehene Tatsache, dass unter ihm auch immer alle anderen leiden müssen. Denn was bedeutet das Schirm-Aufspannen de facto anderes, als dass der so Beschirmte plötzlich einen öffentlichen Raum um seinen Körper herum beansprucht, der ihm nicht zusteht, den er all den anderen, zum Beispiel den Nicht-Beschirmten, wegnimmt. Es gibt zwar kleinere und größer dimensionierte Regenhauben, also zurückhaltendere und aufdringlichere Bannkreiszieher, in jedem Fall usurpiert aber ein Regenschirmträger einen Freiraum um seinen Körperradius herum, der über das, was ihm üblicherweise im öffentlichen Raum zusteht, weit hinausgeht (und was seit Edward T. Halls „The Hidden Dimension“ von 1966 auch sozialwissenschaftlich unter dem Titel der „Proxemik“ untersucht wird). Und dieser Raum wird auch mit aller Nachdrücklichkeit verteidigt; es gibt keine Schirme, deren übergroßer Peripherieumfang nicht auf widerwärtig-spitze, pfeilartig-stachelige Weise ausgestattet wäre, fast wie ein mittelalterlicher Morgenstern, und es ist sehr ratsam, Schirmträger in großem Abstand passieren zu lassen, wenn man diese Stacheln nicht in den Augen und am Kopf spüren will. Dass der Schirm im geschlossenen „Wartezustand“ schon eine recht wirksame Waffe sein kann, weiß man, aber man vergisst, dass er es im geöffneten Zustand und bei konventionellem Gebrauch noch viel mehr ist.

„Haltet Abstand von mir – ich genieße hier gerade meine private Trockenzone“, das ist in der Tat die simple Botschaft des unbekümmerten Schirmträger-Egos. Damit reiht sich das Schirm-Aufspannen ein in eine Reihe von aristokratisch-selbstherrlichen Machtgesten im öffentlichen Raum, die man nur allzu gut kennt: wer immer mit Erfolg rufen kann „Die Straße frei!“, hat die Macht auf seiner Seite, und wer vor seinem Palast eine breite Freitreppe anlegt, signalisiert, dass es hier um sehr viel mehr als den wirklich körperlich notwendigen Durchgangsplatz geht. Der Hoheiten, Honoratioren und VIPs ausgelegte rote Teppich wird nie tatsächlich in seiner ganzen Breite benutzt: Diese soll nur anzeigen, wie weit entfernt davon der Pöbel Spalier zu stehen hat. Wenn im Western die Bösewichte die Main Street herunterkommen und sie dabei in ihrer ganzen Breite in Anspruch nehmen, weiß der Bürger und der Sheriff, dass es bald um Schlimmeres gehen wird als eine demonstrativ überzogene temporäre Okkupation des öffentlichen Raumes.

Das kennt man doch aus unzähligen Asterix-Heften: die Formation Schildkröte in zivil. Wie taktisch sinnvoll diese kollektive Blindheit ist, in der alle sich gegenseitig behindern, demonstriert der Einzelkämpfer Obelix.
Das kennt man doch aus unzähligen Asterix-Heften: die Formation Schildkröte in zivil. Wie taktisch sinnvoll diese kollektive Blindheit ist, in der alle sich gegenseitig behindern, demonstriert der Einzelkämpfer Obelix.

Natürlich wird man mitteleuropäischen Regenschirmbenutzern hingegen nur die lautersten und unschuldigsten Motive unterstellen. Aber man darf nach der kontextuellen Bedeutung der Geste fragen: warum eigentlich reagiert man, wenn uns nasses Unbill von oben droht, nicht kollektiv-solidarisch, sondern egoistisch-individualistisch? Warum ziehen da plötzlich die vielen Einzelnen lauter kleine konzentrische Kreise zur Ausweitung der Komfortzone um sich? Schnecken mögen Regen, und bewegen sich munter über die endlich nasse Erde: Menschen hingegen werden zu ängstlichen Schnecken und ziehen sich ins eigene, mitgebrachte, mobile Haus zurück. Und davon ganz unabhängig: warum behindert man sich selbst, gerade unter solch problematischen Umständen wie denen eines Ungewitters, in denen man „alle Hände voll zu tun“ hätte zur Bewältigung logistischer Sonderaufgaben, indem man einen ganzen Arm zum Nichts-als-einen-Schirmhalten abstellt?

Der Schirm ist kein sinnvolles, problemadäquates Werkzeug und er ist vor allem kein ethisch vertretbares. Jeder Freiluft-Festivalbesucher weiß, dass man beim Sommerregen vor der Bühne keinen Schirm aufspannen darf, weil man damit allen Umsitzenden die Sicht nimmt – so wie auf dem regennassen Bürgersteig allen anderen Passanten der Weg eingeschränkt wird, und zwar gerade dann, wenn sie ihn dringend bräuchten, um schnell nach Hause zu kommen. Wo immer ein Schirm geöffnet wird, so darf man verallgemeinern – und die metaphorischen Schirme der Banken- und Finanzkrise dürfen problemlos dazugezählt werden –, werden Grenzen überschritten, Privilegien verteidigt und die Freiheiten der anderen eingeschränkt.

Und so dann auch ohne Regen: Hauptsache, jeder hat sein eigenes Fleckchen, die anderen bleiben alle auf genau abgemessenem Abstand und alle zusammen hübsch in Reih und Glied.
Und so dann auch ohne Regen: Hauptsache, jeder hat sein eigenes Fleckchen, die anderen bleiben alle auf genau abgemessenem Abstand und alle zusammen hübsch in Reih und Glied.

Niemand muss im Regen stehen (auch wenn Kindern früher gesagt wurde, dass das ihrem Wachstum nur gut tue: „Alles Gute kommt von oben“): Jeder hat bei Regen ein Recht auf einen trockenen Kopf, aber dafür genügen Kapuzen, Mützen, Hüte. Viele sehen ja heute mit sehr kritischem Auge das übertriebene Sicherheitsbedürfnis, das sich unter Privatleuten breit macht: Eigentumshäuser mit permanenter Videoüberwachung, nächtliche Patrouillen privater Sicherheitsleute im Reichenviertel, Waffenscheine und Gewehrschränke in jeder Wohnung. Und vor der Garage steht ein fetter SUV, der Lkw-Abgaswerte hat und drei normale Parkplätze beansprucht. Das überschießende bürgerliche Defensivverhalten paart sich aufs Schönste mit dem, was man früher mal „den dicken Max markieren“ genannt hat. Man darf auch an uneinsichtige Kinder denken, die erpresserisch die Luft anhalten und sich trotzig „aufblasen“.

Man hat versucht, angesichts explodierender Weltbevölkerung und schwindender Ressourcen die Unverfügbarkeit von Raum mit der Formulierung zu illustrieren, die Menschheit brauche bald „mehr als eine Erde“. Das ist als Vorstellung absurd und überspannt: Aber die Frage, warum ein Einzelmensch bei Regen mehr als einen Meter Platz um sich herum benötigt, sollte man stellen dürfen, wenn das nächste Mal bürgersteigbreite Regenschirme aufgespannt werden, sobald ein paar Tropfen fallen.

Titelbild: 

| daniyal ghanavati / Pexels.com (CC0 Public Domain) | Link


Bilder im Text: 

| Ivan Obolensky / Pexels.com (CC0 Public Domain) | Link

| abductit / flickr.com (CC BY 2.0) | Link

| tpsdave / Pixabay.com (CC0 Public Domain) | Link


Beitrag (redaktionell unverändert): Dr. Joachim Landkammer

Redaktionelle Umsetzung: CvD

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Leserbrief
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K.H.Mommertz | 07.09.2017

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