Pionier des Monats Cornelis Kayser

Die Stadt als Reallabor

Von Sebastian Paul
27.04.2023
Die Stadt ist für mich ein Reallabor für das, was ich in den soziologischen Kursen gelernt habe.

Cornelis Kayser
Pionier des Monats im April
 
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Aufgewachsen in Ismaning bei München, durchlief Cornelis Kayser gleich drei verschiedene Schulsysteme. Die ersten sechs Schuljahre besuchte er eine Waldorfschule, anschließend wechselte er auf ein staatliches Gymnasium, um zwischendurch für ein Jahr das Leben an einer amerikanischen High School kennenzulernen. „Die Jahre an der Waldorfschule habe ich sehr genossen, jedoch war ich zu dieser Zeit sehr neugierig und habe nach einem Schulumfeld gesucht, das mich herausfordert und mir zeigt, was ich leisten kann“, erinnert sich Kayser. Zunächst überrascht von der Fächerauswahl, entwickelte Kayser schnell ein Interesse für Politik und Wirtschaft. „Denn beide Fächer haben mir ein Gefühl davon vermittelt, wie die Welt da draußen tickt“, erläutert Kayser.


Raus in die Welt ging es für ihn an eine High School in den USA; raus in die Welt sendete er von dort aus selbstproduzierte YouTube-Videos, um anderen Einblicke in sein Schulleben zu geben. Eigentlich für Familie und Freunde gedacht, entstand rasch eine kleine Community, schließlich wurde Cornelis Kayser entdeckt: vom größten Ratgeber und Vergleichsportal für den Schüleraustausch. Anfangs blieb er vor der Kamera und beantwortete Fragen, die sich diejenigen stellen, die an einem Schüleraustausch interessiert sind; später wechselte er hinter die Kamera, suchte plötzlich selbst nach Influencerinnen und Influencern, leitete ein Social Media-Team und baute eine digitale Plattform für Austauschschülerinnen und -schüler auf. „Für meine weitere persönliche Entwicklung war vor allem das enge Arbeitsverhältnis mit dem Geschäftsführer wichtig, der mir und meinen Projekten vertraute und damit zu einer Art Mentor für mich wurde“, ergänzt Kayser, der erst vor gut einem halben Jahr dieses Kapitel schloss, um sich Themen und Projekten mit sozial nachhaltigem Nutzen zuzuwenden.


Mit dem Abitur, aber wenig Geld in der Tasche bereiste Cornelis Kayser gemeinsam mit einem Freund Zentral- und Südamerika. Bei einem anschließenden Projekt der Entwicklungszusammenarbeit in Moldawien pflasterte er als Betreuer mit Jugendlichen zweier Waldorfklassen eine Straße – da war sein eigener Weg bereits geebnet. Mit dem Wunsch, Journalismus zu studieren, und der gleichzeitigen Erkenntnis, dass sich diese Profession gar nicht so zielgerichtet studieren lässt, wurde er auf die ZU aufmerksam und fühlte sich dort von der Kombination verschiedener Fachrichtungen in einem Studiengang direkt angesprochen. „Besonders angetan war ich von den kleinen Gruppengrößen, dem engen Betreuungsverhältnis und der Möglichkeit, sich neben dem Studium in diversen studentischen Initiativen zu engagieren“, erzählt Kayser, der sich für den SPE-Bachelor entschied.


Das änderte sich, als er die ersten soziologischen Kurse belegte. „Was mir an der Soziologie zusagt, ist, dass sie im Gegensatz etwa zu den Wirtschaftswissenschaften keine vollendeten Tatsachen schafft, sondern Spielraum für Abwägungen, Argumente und Interpretationen lässt“, erklärt Kayser. Im vierten Semester kristallisierte sich ein Thema heraus: die Stadt. „Die Stadt ist für mich ein Reallabor für das, was ich in den soziologischen Kursen gelernt habe“, erwähnt Kayser. Fragen der Urbanisierung und Stadtentwicklung ließen ihn nicht mehr los. Egal ob globale Kommunikation, internationale Handelspolitik oder europäische Integration: „In meinen Hausarbeiten habe ich immer versucht, die in den Kursen vermittelten Theorien auf den Gegenstand Stadt beziehungsweise die Stadtgesellschaft anzuwenden.“


Bereits vor seiner Bachelorarbeit stand für Cornelis Kayser fest, dass er sich in einem Master tiefergehend mit Urbanistik beschäftigen möchte. Seine Abschlussarbeit sollte daher ein Brückenschlag zwischen Bachelor- und Masterstudium sein. Fehlte nur noch das Thema, das sich durch eine hohe Aktualität und Relevanz auszeichnen sollte. „Bei meinen Recherchen bin ich immer wieder über das Thema Wohnen gestolpert und habe festgestellt, dass der zu einer drängenden Herausforderung gewordene Wohnraummangel viel zu oft aus ökonomischer und politischer und viel zu selten aus kultureller Perspektive betrachtet wird. Wohnen kann meiner Meinung nach langfristig nur bezahlbar sein, wenn wir bereit dazu sind, unsere aktuelle Wohnkultur zu hinterfragen. Um das Ziel der Bezahlbarkeit zu erreichen, braucht es neue Wohnformen, mit denen sich die Menschen identifizieren müssen, damit sie letzten Endes auch politisch durchsetzbar sind“, beschreibt Kayser.


In seiner Bachelorarbeit wollte er diese These anhand eines Beispiels aus der aktuellen Wohnpolitik untersuchen: „Deshalb habe ich mir das ,Bündnis bezahlbarer Wohnraum‘ und seine Akteure genauer angeschaut und wie sie den Wohnraummangel einerseits darstellen und andererseits angehen wollen. Letztlich hat sich herausgestellt, dass in dem Bündnis das Lager dominiert, das auf den Neubau von Wohnraum pocht. Mehr noch: Die Position des anderen Lagers, das eine sozialere Wohnpolitik beispielsweise durch die Erhöhung des öffentlichen Wohnungsbestands fordert, wird strukturell benachteiligt. Grund hierfür ist vor allem der große Einfluss der Baubranche, die die Wohnpolitik der vergangenen 30 Jahre maßgeblich geprägt hat.“


Cornelis Kayser befasste sich nicht nur in seinen Forschungsarbeiten mit Urbanisierung und Stadtentwicklung, sondern auch bei seinem Engagement für das Wohn- und Kulturprojekt Blaue Blume e.V. Im Fokus stand dabei der von der Stadt Friedrichshafen beschlossene Bebauungsplan für das Quartier Fallenbrunnen, auf dem der ZF Campus der ZU und die Bauwagensiedlung der Blauen Blume beheimatet sind. „Der Bebauungsplan sieht unter anderem vor, dass das in unmittelbarer Nachbarschaft (leer-)stehende und denkmalgeschützte Heizhaus zu einem Gastronomie- und Kulturort werden soll. Damit stellte sich für die Blaue Blume eine Existenzfrage“, berichtet Kayser. Kurzerhand gründete und leitete er eine Arbeitsgruppe, um diese Frage anzugehen. „Daraus ist die Idee entstanden, der Stadt den Vorschlag zu unterbreiten, gemeinsam mit den im Quartier Fallenbrunnen lebenden und arbeitenden Nachbarinnen und Nachbarn ein sinnvolles und nachhaltiges Konzept für die zukünftige Nutzung des Heizhauses zu erarbeiten, das gleichzeitig sicherstellt, dass die Blaue Blume an ihrem Standort bestehen bleiben kann“, erzählt Kayser.


Während eines fünfmonatigen Praktikums bei Smart City | DB in Berlin setzte er sich ebenfalls mit nachhaltigen und sozial verträglichen Nutzungskonzepten auseinander. Stets im Mittelpunkt stand dabei der Bahnhof und die Frage, wie dieser so gestaltet werden kann, dass er zukünftig nicht nur die Kapazität für eine wachsende Zahl an Reisenden aufweist, sondern auch zum Aufenthaltsort mit hoher gesellschaftlicher Qualität werden kann.


Eine wichtige Station für Cornelis Kayser war darüber hinaus seine Arbeit als studentische Hilfskraft im Zukunftsbüro der ZU. „Weil meinem Kommilitonen Felix Walther und mir eine nachhaltige Universität sehr am Herzen liegt, hatten wir beschlossen, das Zukunftsbüro neu aufzustellen und den Nachhaltigkeitsdiskurs an der Universität zu beleben“, erwähnt Kayser. Um den Rückhalt der Studierenden zu gewinnen und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich selbst für mehr Nachhaltigkeit an der Universität zu engagieren, gründeten die beiden eine gleichnamige studentische Initiative.


Von größerer Bedeutung aber war, dass ihr gemeinsamer Vorschlag, der Universität das Ziel der Klimaneutralität bis 2035 zu geben, vom Präsidium positiv aufgenommen und beschlossen wurde. „Was zu Reibereien geführt hat, waren die mit dem Klimaziel verbundenen Energiesparmaßnahmen, die Mut, Risiko und Veränderung bedeuten“, berichtet Kayser. In einer erstmals erstellten Klimabilanz zeigte sich, dass etwa ein Drittel der Gesamtemissionen durch Dienstreisen mit dem Flugzeug verursacht werden. „Ausgehend von Befragungen anderer Universitäten haben wir In der AG Nachhaltige ZU eine nachhaltige Reiserichtlinie diskutiert und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass Dienstreisen von unter acht Stunden mit dem Zug durchgeführt werden können“, sagt Kayser.


Zu keiner Sekunde bereut Cornelis Kayser seine Entscheidung, einen Bachelor an der ZU gemacht zu haben: „Zum einen habe ich gelernt, für selbstverständlich gehaltene Prozesse an der Universität kritisch zu hinterfragen; zum anderen ist mir bewusst geworden, dass das, was die Universität und ihre Dozierenden und Mitarbeitenden für die Studierenden tun, keineswegs selbstverständlich ist.“

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