Pionierin des Monats Josephine Jüde

Einen Schritt zurücktreten, um voranzukommen

Von Sebastian Paul
17.05.2023
Im Laufe des Studiums habe ich festgestellt, dass ich mich nicht damit auseinandersetzen möchte, dort, wo Strukturen und Systeme Leid und Ungerechtigkeit verursachen, zu retten, was gerettet werden kann, sondern dass ich, sofern das möglich ist, dazu beitragen möchte, dass dieses Leid gar nicht erst entsteht.

Josephine Jüde
Pionierin des Monats im Mai
 
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Josephine Jüde ist vom Kindergarten über die Grundschule bis hin zum Abitur auf dieselbe (Waldorf-)Schule gegangen. Damit ist sie über Jahre hinweg in einem für sie vertrauten schulischen wie sozialen Umfeld aufgewachsen, in dem sie sich frei entfalten und ihren Interessen nachgehen konnte. Auch wenn ihr Bedürfnis, alles zu verstehen, was ihr begegnete, dazu führte, dass sie für die allermeisten Fächer Interesse und Freude aufbrachte, waren vor allem Sprachen, Musik und Literatur ihre stetigen Begleiter. „Weil ich sehr gut darin war, den vorgegebenen Bahnen zu folgen, und weil mir alles sehr leichtgefallen ist, habe ich aber auch wenig gewagt“, erinnert sich Jüde. „Nicht nur deswegen, sondern auch, weil Fächer wie Sozialkunde, Politik und Wirtschaft erst gar nicht auf dem Lehrplan standen, sind mir viele Perspektiven zunächst versperrt geblieben, und ich habe lange gebraucht, um die Themen zu finden, die mich wirklich begeistern.“


Nach dem Abitur – oder anders ausgedrückt: Nach 16 Jahren in einem kleinen Kosmos wollte Josephine Jüde deshalb nur noch weit, weit weg und neue Welten erkunden. Damit meinte sie sowohl andere Länder, Leute und Lebensrealitäten als auch die Orientierung nach einem Studium. Wegen ihrer Spanischkenntnisse fiel die Wahl auf Südamerika. „Dort habe ich unter anderem durch meine Arbeit in Dorfgemeinschaften und auf Farmen ganz andere Lebensformen und Weltanschauungen kennengelernt“, erzählt Jüde. „Diese Zeit hat mein Verständnis von globalen Zusammenhängen und Ungleichheiten nachhaltig geprägt.“


Zu dem Zeitpunkt entwickelte sie auch das Bedürfnis, sich mit internationalen Themen auf der politischen statt auf der kulturellen Ebene auseinandersetzen zu wollen, und begann mit dem Gedanken an ein Studium der Internationalen Beziehungen zu spielen. Um sicherzugehen, ob das wirklich das Richtige für sie ist, entschied sie sich für ein einjähriges Studium Generale am Aicher-Scholl-Kolleg in Ulm und belegte geisteswissenschaftliche Kurse zwischen Politik, Soziologie und Anthropologie, aber auch Jura oder Medizin. „Letztlich hat mich das Studium Generale in meinem anfänglichen Gefühl nur noch bestärkt. Denn mir war und ist es wichtig, mich mit den Mechanismen auseinanderzusetzen, die die globale Gesellschaft formen“, bemerkt Jüde.


Ihr Interesse für verschiedene Kulturen und politische Fragen prägten auch ihre privaten Aktivitäten in Ulm. Als sie bei einem Vortrag an der Volkshochschule der Gründerin und Vorsitzenden des Vereins Menschlichkeit Ulm e.V. begegnete, war sofort klar, dass sie sich in der Integrationsarbeit des Vereins einbringen möchte. Und so unterstützte sie eine Gruppe von geflüchteten Syrer:innen sowohl beim Erlernen der deutschen Sprache als auch bei anstehenden Aufgaben aus Schule und Ausbildung. „Es hat mich sehr beeindruckt, mit welcher Energie und Freude die syrischen Jugendlichen und Erwachsenen sich trotz der schrecklichen Erlebnisse, die hinter ihnen lagen, um ihre Deutschkenntnisse und das Ankommen in Deutschland bemüht haben“, erwähnt Jüde.


Die Zeit in Ulm nutzte sie aber auch, um die passende Universität für ein Studium der Internationalen Beziehungen zu finden. Im grünen Studienführer entdeckte sie die ZU als eine der wenigen deutschen Universitäten, die dieses Studienfach im Bachelor anbieten. Doch noch war es für sie weder denk- noch vorstellbar, an einer Privatuniversität zu studieren. „Die ZU hat mich erst wieder beschäftigt, als mich ein Studienberater erneut auf die Universität und den PAIR-Bachelor aufmerksam machte und mir persönlich sehr ans Herz legte, mich zu bewerben“, berichtet Jüde. „Nach Pro-und-Contra-Listen war letztlich ausschlaggebend, dass die ZU mir durch die in den Programmen angelegte Interdisziplinarität und die Freiräume im Studienplan die Möglichkeit gibt, aus verschiedenen Blickwinkeln und abseits von festgefahrenen Wegen auf ein Thema zu schauen.“


Mit der Erwartungshaltung, Lösungen für die drängenden Herausforderungen unserer Zeit und der Zukunft zu erforschen und zu entwickeln, startete Josephine Jüde in ihr Studium. Seither beschäftigte sie sich mit Themen wie Entwicklungszusammenarbeit, Ungleichheit, globalen Konflikten, Migration, Rassismus und Postkolonialismus. „Im Laufe des Studiums habe ich festgestellt, dass ich mich nicht damit auseinandersetzen möchte, dort, wo Strukturen und Systeme Leid und Ungerechtigkeit verursachen, zu retten, was gerettet werden kann, sondern dass ich, sofern das möglich ist, dazu beitragen möchte, dass dieses Leid gar nicht erst entsteht“, bemerkt Jüde.


Daraus entwickelte sie spät im Studium ein Interesse für globale politische Ökonomie und befasste sich in ihrer Bachelorarbeit mit dem Lieferkettengesetz und damit mit einem Baustein, mit dem die Globalisierung nachhaltiger und gerechter gestaltet werden soll. „Alles, was wir konsumieren, hat eine Historie – und in den meisten Fällen keine schöne. Oftmals wollen oder sollen wir aber gar nicht wissen, unter welchen verheerenden Bedingungen unsere Konsumgüter produziert werden. Das Lieferkettengesetz ist hier zumindest ein erster Versuch, akzeptable Produktionsbedingungen zu gewährleisten“, erläutert Jüde.


In ihrer Abschlussarbeit hat sie gezeigt, dass die Argumente der Lobbyarbeit gegen das Gesetz vor allem Ausdruck der Sorge davor sind, in einer gerechteren und nachhaltigeren globalen Wirtschaft nicht mehr profitabel zu sein. „Dass auch die Politik weiß, wie sehr die deutsche Wirtschaft von den momentanen Strukturen profitiert, erklärt, warum wir so häufig nicht vorankommen“, konstatiert Jüde, die aktuell für den Think-and-Do-Tank und die Beratungsgesellschaft adelphi in verschiedenen Projekten öffentliche Auftraggeber dabei unterstützt, das Lieferkettengesetz umzusetzen und sich mit sozial und ökologisch nachhaltigen Lieferketten weiter auseinanderzusetzen.


Mittlerweile kann Josephine Jüde sich vorstellen, der Wissenschaft verbunden zu bleiben. Das hat nicht nur mit ihren eigenen Forschungen zu tun, sondern auch mit ihren praktischen Erfahrungen als studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Politische Kommunikation und am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und einem Praktikum am Centre for Humanitarian Action e.V. Ab Herbst möchte sie ihre Kenntnisse in globaler politischer Ökonomie und internationaler Entwicklung in einem Master vertiefen.


Bislang würde man vermuten, dass Josephine Jüde in ihrer Studienzeit einen konkreten Plan verfolgte. Doch das täuscht. Allein die Coronapandemie, die mitten in ihrem Bachelorstudium über die Welt hereinbrach, brachte auch ihre Planungen durcheinander. So musste sie ihr Auslandssemester von Kolumbien nach Frankreich verlegen. Weil sich frühzeitig abzeichnete, dass sich das Auslandssemester um ein Jahr nach hinten verschieben würde, nahm sie die Gelegenheit wahr, als studentische Senatorin zu kandidieren – und wurde in das Amt gewählt. Dabei beschäftigte sie sich zum einen mit den Auswirkungen des Coronavirus auf das Universitätsleben und den Studienalltag; zum anderen arbeitete sie am Strategie- und Entwicklungsplan der Universität und an einer nachhaltigen Reiserichtlinie mit. „Für mich war es gar nicht so wichtig, eigenen Zielen konsequent nachzugehen, vielmehr war es mir ein Anliegen, die studentische Stimme in verschiedenen Gremien einzubringen und dadurch gegenwärtige und zukünftige Entscheidungen der Universität mitzugestalten“, berichtet Jüde.


„Nicht nur mein Engagement, sondern auch viele Entscheidungen im Studium entstanden daraus, Möglichkeiten zu ergreifen und Angebote anzunehmen, an die ich zuvor nicht gedacht hatte“, bemerkt Jüde. Zwar lief nicht alles nach Plan, dafür hatte aber alles einen Sinn: „Die ZU ist sehr gut darin, einem das Gefühl zu geben, in der Studienzeit viel Lebenserfahrung gesammelt zu haben, obwohl sich die meiste Zeit davon nur in den vier Wänden zweier Gebäude abspielt. Auf jeden Fall hat sie mir persönlich das Gefühl gegeben, dass ich mir vieles zutrauen und dass ich mitgestalten kann – ich fühle mich heute anders, sicherer und gut vorbereitet, mich den Aufgaben zu stellen, die in der Welt auf mich warten.“

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