Interview mit Friedrich von Borries

"Im Aushalten von Langeweile liegt eine Kraft"

Von Fabio Sommer
17.03.2023
Oft wird es mit Faulheit verwechselt, obwohl das gelegentliche Faulenzen eine tolle Angelegenheit ist. Das Nichtstun ist dagegen eine aktive und teilweise anstrengende Handlung.

Friedrich von Borries
 
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Herr von Borries, viele Studierende kennen aus ihrer Kindheit noch den „Zeitvertreib“, um Langeweile zu überwinden. Heute besuchen wir Workshops zum „Nichtstun“. Wie ist es dazu gekommen?

von Borries:
Die Erfahrung der Langeweile, die viele noch aus Kindertagen kennen, machen Menschen im reichen Norden immer weniger. Das kommt durch soziale Medien, durch berufliche Erwartungen oder den Freizeitstress. Das Langeweile-Haben, Nichtstun, Rumhängen oder Zeit totschlagen ist heute eine verlorene Kompetenz. Und ich sage bewusst Kompetenz. Denn meine Erfahrung ist, dass in dem Aushalten von Langeweile und im Warten auch eine Kraft liegt. Dadurch werden Sachen klarer, die Gedanken sortieren sich und es wird deutlicher, was eigentlich wichtig und was unwichtig ist.

Welche Vorteile hat das Nichtstun für uns?

von Borries:
Das Nichtstun ist wie eine Art von Kopf frei spülen. Man spürt sich selbst und die Welt viel intensiver. Was riecht man? Was spürt man? Was hört man? Wann fühlt man sich wohl? Wann fühlt man sich nicht wohl? Wann ist etwas zu nah? Wann ist etwas zu laut? Wann ist etwas bedrückend? Wann ist was befreiend? Normalerweise wird das heutzutage durch den informationellen Lärm immer überrauscht. Genau das ist es aber, was man beim Nichtstun lernen kann. Und irgendwann kann man dann auch lernen, tatsächlich einfach nichts zu tun, was eine tolle Sache ist.

Nichts-Tun ist nicht dasselbe wie nichts tun.

Was ist das Nichts überhaupt? Eine geistige Leere? Eine körperliche Ruhe?

von Borries:
Ich bin kein Freund der Körper-Geist-Trennung. Insofern ist es sowohl eine geistige als auch eine körperliche - und jetzt ist die Frage, was genau. Die „Leere“ ist bei uns ein kulturell negativ besetzter Begriff. Als jemand, der stark visuell denkt, würde ich eher von „weiß“ reden. Für mich ist das Nichts ein großes, körperliches und geistiges Weiß.

Jetzt sitzen wir gerade am Bodensee und schauen in diesen weiten, nebligen Raum, der sowohl eine Unendlichkeit hat, in dem sich zugleich aber auch eine Horizontlinie abzeichnet. Vielleicht ist auch dieser Raum das „Nichts“. Obwohl dieser natürlich total voll ist. Voll Wasser. Voll Nebel. Voll Himmel. In Bezug auf das Weiß geht es also schon um eine Abwesenheit. Um eine Abwesenheit von Dinglichkeit, von Information, von Materialität. Und wenn wir das auf unseren Alltag übertragen, dann ist es vielleicht die Abwesenheit von Anforderungen, von Wünschen, von Erwartungen, von Zwängen, von Unfreiheiten und von Verpflichtungen, die es einem ermöglichen, ein Stück weit „ohne“ zu sein.

Wie erreicht man diesen Zustand?

von Borries:
Da gibt es ganz viele unterschiedliche - auch kulturelle - Praxen, die zum Teil historisch sehr lang überliefert sind. In allen Religionen gibt es zum Beispiel eine meditative Praxis, in der es auch um eine Form von „Entleerung“ geht. Ob das jetzt der katholische Rosenkranz, der sufistische Derwischtanz oder die buddhistische Meditation ist. Das Interessante dabei ist, dass diese Praxen alle unterschiedliche Grade von körperlicher Entsagung beinhalten. Das ist gerade das Spannende am Derwischtanz, der auch eine Korrespondenz im Raven hat. Also eine Entleerung durch eine sich wiederholende, körperliche Bewegung.

Ich persönlich schwimme auch sehr gerne. Gerade jetzt im Winter ist das für mich toll. Denn dieses Kalte, das einen umgibt und das einem die Lebensenergie entzieht, schafft einen Moment des ganz starken Spürens der eigenen Fragilität. Und dann der Gegensatz, wenn man aus diesem unglaublich kalten Wasser hinausgeht und sich wieder ein Gefühl von Wärme breitmacht. Das ist so ein Moment, in dem ich gleichzeitig sowohl mich selbst als auch die Möglichkeit eines Nicht-Selbst spüre. Aber ich glaube, dass da jeder seine eigene Praxis finden und entwickeln muss. Wie gesagt: die kulturelle Überlieferung bietet da ganz, ganz viele Beispiele.

Stichwort „kulturell“. Sie sagten eben, dass die „Leere“ kulturell negativ konnotiert ist. Bezogen auf das Nichtstun: Was sind da die größten Missverständnisse in der Gesellschaft?

von Borries:
Oft wird es mit Faulheit verwechselt, obwohl das gelegentliche Faulenzen eine tolle Angelegenheit ist. Das Nichtstun ist dagegen eine aktive und teilweise anstrengende Handlung. Wie ein Abwaschen, das dazu führt, dass nachher die Teller sauber sind. Aber erstmal war es eine anstrengende oder zumindest aktive Handlung. Ähnlich ist es mit dem Freibekommen des Kopfes und des Körpers, was auch anstrengend ist. Das wird oft übersehen.

Auch hat das Nichtstun eine Verwandtschaft zum Nicht-Tun. Also die aktive Unterlassung von Gewohnheiten und Dingen, von denen wir wissen, dass sie nicht gut für uns, für die Gesellschaft, für die Umwelt oder für sonst wen sind. Das ist natürlich noch mal etwas anderes, als dieses negativ belegte „Nichtstun“. Wie wir es eben im Videointerview am Beispiel der geplanten Reise, die ich nun vielleicht doch bleiben lassen, gesehen haben. Das ist es, was wir eigentlich lernen müssen. Das aktive Nicht-Tun.

Wie verändert sich unser Verhältnis zur Produktivität und damit auch zum Nichtstun in der Zukunft?

von Borries:
Das ist wohl die zentrale und zugleich schwierigste Frage. Am liebsten würde ich antworten: Produktivität ist toll. So bin ich ja auch groß geworden. Aber dann stellt sich die Frage: für was? Und wo? Vielleicht wird man Produktivität irgendwann durch Intensität ersetzen. Als das Gegenüber zum Nichtstun und der aktiven Leere. Idealerweise finden wir eine Balance zwischen intensiven Phasen und denjenigen, die auch mal eine Leere zulassen.

Auch glaube ich an eine Verschiebung, für was wir intensiv oder produktiv sein wollen. Ich kann produktiv in der Arbeit sein, ich kann aber auch produktiv in der Pflege einer Freundschaft sein. Ich kann intensiv mit meinen Kindern sein oder intensiv das 28. wissenschaftliche Paper raushauen. Ich glaube daher, dass wir die Produktivität im positiven Sinne als ein tolles Erlebnis auch auf andere Lebensbereiche ausweiten. Das ist, glaube ich, eine wichtige Sache.

Friedrich von Borries bei einem Workshop zum Nichts-Tun in Friedrichshafen.
Friedrich von Borries bei einem Workshop zum Nichts-Tun in Friedrichshafen.

Sie sagten eben, dass Sie mit dem Produktivitätsgedanken groß geworden sind. Wie hat sich Ihre Einstellung gegenüber dem Nichtstun während Ihres Lebens verändert?

von Borries:
Als ich im Studierendenalter war, habe ich mittags sehr gerne geschlafen und mich entspannt. Dann kam eine Phase, in der ich sehr viel gearbeitet habe, was ja auch geil ist und Spaß macht. Also zu erleben, dass man irgendetwas produzieren und herstellen kann, was andere auch interessiert und für diese einen Nutzen und Wert hat. Dann kommt irgendwann eine Phase, in der man eine Erschöpfung merkt und auch an Belastungsgrenzen stößt. Sowohl intellektuell als auch physisch als auch emotional. Und in der man merkt: wenn man das jetzt so weiterfährt, dann zahlt man dafür einen sehr hohen Preis in anderen Lebensbereichen. Daher ist es glaube ich normal, dass man im Leben in unterschiedlichen Phasen ein unterschiedliches Verhältnis zum Nichtstun hat.


Abschlussfrage: Können Sie sich an eine Situation erinnern, in der das Nichtstun Ihnen dabei geholfen hat, auf neue Ideen zu kommen?

von Borries:
Ich glaube im Moment bin ich in einer Lebensphase, in der ich gar nicht mehr so viel auf neue Ideen komme. Ich trage schon ganz schön viele Ideen für ganz schön lange Zeit mit mir herum. Das Nichtstun hilft mir dabei immer wiederzusehen, welche davon gerade für mich oder für andere wirklich wichtig sind. Aber um es konkret zu machen: jedes Mal, wenn ich einen Text schreibe und diesen dann wieder weglege, sage ich mir: „Ich fasse den jetzt nicht mehr an und mache mal etwas ganz anderes“. Wenn ich ihn dann wieder hervorhole, dann merke ich ganz schnell, was ich da wieder streichen kann. Genauso fällt mir dann Neues ein, was dann dazukommt. Das Innehalten ist also etwas, das ich ganz oft mache.


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