Pionier des Monats Marius Kieninger

„Die Ermöglichungskultur beeindruckt mich“

von Patrick Merk & Sebastian Paul
18.04.2024
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Seit deiner Geburt leidest du an spinaler Muskelatrophie. Kannst du uns kurz erklären, was das genau bedeutet?


Marius Kieninger: Es gibt viele Krankheiten, bei denen die Menschen wirklich leiden, also zum Beispiel Schmerzen haben. Das ist bei mir nicht der Fall oder nur indirekt und minimal. Worunter Menschen wie ich eher leiden, sind etwa (nicht getroffene) politische Entscheidungen, wirtschaftliche Zwänge und vor allem soziale Engstirnigkeit. Im Grunde leide ich nicht an der Krankheit an sich, sondern an einer Umwelt, die nicht an meinen Körper angepasst ist – das ist mir wichtig zu betonen.


Aber um die Frage zu beantworten: Kurz gesagt bedeutet es, dass die Muskeln mit zunehmendem Alter immer schlechter funktionieren, was verschiedene Begleiterscheinungen mit sich bringt wie zum Beispiel ein hohes Risiko für Lungenentzündungen. Das Krankheitsbild ist individuell sehr unterschiedlich. Bei mir war es so, dass ich nie laufen konnte und immer auf fremde Hilfe angewiesen war. Als Kind beziehungsweise Jugendlicher konnte ich noch einen Elektrorollstuhl mit einem Minijoystick bedienen – heute nicht mehr. In den vergangenen Jahren sind einige Medikamente auf den Markt gekommen, eines davon nehme ich: Es soll den Verschlechterungsprozess verlangsamen, im Idealfall sogar stoppen.


Dein Abitur hast du auf einem Gymnasium in Tuttlingen gemacht. Wie erinnerst du dich an deine Schulzeit?


Kieninger: Rückblickend war die Schulzeit ambivalent. Ich hatte viele hervorragende Lehrer:innen, die versuchten, mich in das Klassengeschehen zu integrieren, die mich förderten und an meinem Lernerfolg interessiert waren. Dafür bin ich heute noch dankbar. Ich hatte jedoch auch Lehrer:innen, die mich immer ein bisschen außen vor ließen, mich unverhältnismäßig milde sanktionierten und kaum förderten. Ein extremes Beispiel, das mir einfällt, war, als mir ein Lehrer in der Mittelschule riet, auf eine Behindertenschule zu gehen. Ich habe ihn sowieso nicht ernst genommen, aber angenommen, ich hätte seinen Rat befolgt, wäre dieses Interview hier sicher nicht zustande gekommen.


Welchen Interessen bist du bereits zu Schulzeiten nachgegangen und wie sind diese Interessen entstanden?


Kieninger: Ich schaute gerne Serien, Filme, Reportagen und so weiter. Aber ich hatte eigentlich keine ausgeprägten Hobbys oder Interessen. Ich war eher allgemein interessiert, vor allem an politischen Ereignissen, gesellschaftlichen Debatten und ethischen Fragen. Wie es dazu kam, ist schwer zu sagen.


Du studierst bereits seit 2017 an der ZU, hast erst einen Bachelor in SPE abgeschlossen und studierst nun einen Master in DS. Könntest du uns bitte erzählen, wie du auf die ZU aufmerksam geworden bist und warum du dich für ein Studium hier entschieden hast?


Kieninger: Das erste Mal auf die ZU aufmerksam geworden bin ich durch jemanden, der ein Freiwilliges Soziales Jahr absolvierte und mich in der Schule begleitete. Er erzählte mir, dass er nach seinem FSJ vorhat, an der ZU zu studieren, was er dann auch tat. Später bin ich dann selbst ebenfalls auf die ZU gestoßen, als ich nach möglichen Studiengängen recherchiert habe. Für die Universität habe ich mich wegen der Studieninhalte, der Interdisziplinarität, aber auch wegen des Versprechens, für den Einzelnen da zu sein, entschieden.


Was waren deine ersten Eindrücke von der ZU und ihren Menschen?


Kieninger: Bevor ich mich beworben habe, hatte ich zunächst ein Treffen vor Ort mit ZU-Beteiligten, um Bedürfnisse, mögliche Probleme und Ähnliches zu besprechen. Allein der Eindruck dieses Treffens war für mich überwältigend! Ich fühlte mich willkommen, freute mich, dass ein studentischer Diversitätsbeauftragter mit am Tisch saß und spürte bereits die ausgeprägte Ermöglichungskultur dieser Universität. Neben den spannenden Seminaren hat mich später beeindruckt, wie viele Menschen an der ZU überdurchschnittlich nett und offen sind. Herzlichkeit sollte man nicht als nette Charaktereigenschaft abtun, sondern ein Stück weit als universitäre Notwendigkeit begreifen.

„Für die Universität habe ich mich wegen der Studieninhalte, der Interdisziplinarität, aber auch wegen des Versprechens, für den Einzelnen da zu sein, entschieden.“
„Für die Universität habe ich mich wegen der Studieninhalte, der Interdisziplinarität, aber auch wegen des Versprechens, für den Einzelnen da zu sein, entschieden.“

Wie gestaltet sich dein Studienalltag mit deiner seltenen Krankheit und welche Herausforderungen musst du aufgrund deiner Erkrankung bewältigen?

Kieninger: Ich und mein:e Assistent:in werden vom Malteser Fahrdienst zur Universität gefahren. Im Seminarraum steht mir eine Liege zur Verfügung, auf der ich liegend am Seminar teilnehme. Ich kann während des Seminars keine Notizen machen, hier bin ich darauf angewiesen, dass Kommiliton:innen ihre Notizen mit mir teilen und Dozent:innen ausreichend ausführliche PowerPoint-Folien zur Verfügung stellen. Analoge Bücher sind eine weitere Herausforderung: Da ich nur mit digitalen Texten arbeiten kann, muss ich Bücher im Zweifelsfall erst einscannen. Auch der generell höhere Zeitaufwand beim wissenschaftlichen Arbeiten ist eine Herausforderung, vor allem bei Hausarbeiten.

Welche Hilfsmittel und Ressourcen stehen dir zur Verfügung?

Kieninger: Ich habe im Wesentlichen zwei Hilfsmittel, die für das Studium relevant sind. Zum einen habe ich auf meinem Laptop eine Spracherkennung. Damit lässt sich relativ schnell schreiben. Der Nachteil ist die Langsamkeit bei anderen Tätigkeiten, also alles, was „Mausarbeit“ ist. Daneben habe ich noch ein Tablet, das eine Augensteuerung besitzt. Da ist es umgekehrt: Das Schreiben ist sehr langsam, während Klicks, Drag and Drop und so weiter relativ schnell gemacht werden können.

Wie gehst du bei Klausuren vor und wie bereitest du Präsentationen vor?

Kieninger: Im Master gibt es nur noch Hausarbeiten und keine Klausuren mehr. Aber im Bachelor habe ich die klassischen Prüfungen meist mündlich abgelegt. Präsentationen bereite ich eigentlich genauso vor wie alle anderen. Meistens erstelle ich zuerst ein Skript in Textform – dafür verwende ich am liebsten die Sprachsteuerung – und dann die PowerPoint-Folien – dafür verwende ich meistens die Augensteuerung.

Wer unterstützt dich dabei an der ZU?

Kieninger: Es gibt an der ZU nicht der oder die eine Person, die mich unterstützt. Vielmehr stehen mir eine Reihe von Personen aus unterschiedlichen Abteilungen bei konkreten Anliegen zur Seite. Hierzu zählt zum Beispiel die Programmdirektion, das Studien- und Prüfungscenter, das Standortmanagement oder auch die Kolleginnen der Raumbuchung. Daneben habe ich wie bereits erwähnt Assistent:innen, die aber nichts mit der ZU zu tun haben. Die ersten knapp sechs Jahre wurde mein Pflege- beziehungsweise Assistenzpersonal von einem Pflegedienst bereitgestellt. Weil es aber mit diesem zunehmend zu Problemen kam, wie zum Beispiel, dass einfach kein Personal mehr kam und ich deshalb kurzzeitig immer wieder zu meinen Eltern zurückmusste, beschloss ich es selbst in die Hand zu nehmen. Nach monatelangen Verhandlungen mit der Krankenkasse und dem Sozialamt startete ich im Juni 2023 mit dem sogenannten Persönlichen Budget im Arbeitgebermodell und baute mir ein neues Team von Persönlichen Assistent:innen auf.

„Es gibt an der ZU nicht der oder die eine Person, die mich unterstützt. Vielmehr stehen mir eine Reihe von Personen aus unterschiedlichen Abteilungen bei konkreten Anliegen zur Seite.“
„Es gibt an der ZU nicht der oder die eine Person, die mich unterstützt. Vielmehr stehen mir eine Reihe von Personen aus unterschiedlichen Abteilungen bei konkreten Anliegen zur Seite.“

Mit welchen Themen hast du dich im Bachelorstudium befasst und was hast du in deiner Bachelorarbeit untersucht?

Kieninger: Während meines SPE-Bachelorstudiums setzte ich mich mit einer Vielzahl von Themen und Disziplinen auseinander und fand es nicht erstrebenswert, mich zu spezialisieren, wie es einige tun. Stattdessen habe ich mich immer wieder auf Neues eingelassen. Dennoch hat sich mit der Zeit ein Themenkomplex herauskristallisiert: Diversität und (Anti-)Diskriminierung. Das war auch das Thema meiner Bachelorarbeit. Darin habe ich die Reaktion von Politik und Verwaltung auf die Empfehlungen der Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2010 bis 2021 untersucht. Und festgestellt, dass die Responsivität mittelmäßig bis gering ist, da von insgesamt 99 gezählten Empfehlungen nur 61 überprüft und von diesen wiederum nur 20 von Politik und Verwaltung umgesetzt wurden.

Während des Studiums hast du zwei Ausgaben eines Transcultural Leadership Summit mitorganisiert. Welche Rolle hast du dabei im Team eingenommen und welche Aufgaben übernommen?

Kieninger: Ich war immer im Content-Team. Dort habe ich mich vor allem um die inhaltliche Ausrichtung des Kongresses gekümmert. Meine Kommiliton:innen und ich haben also mögliche Themen recherchiert und uns potenzielle Speaker:innen überlegt. Dann ging es darum, diese Persönlichkeiten einzuladen, was nicht immer funktionierte – manchmal scheiterte es schon bei der Kontaktaufnahme. Wichtig war am Ende, dass das Gesamtkonzept stimmig wirkte und die inhaltlichen Schwerpunkte ebenso wie etwa Herkunft und Geschlecht möglichst ausgewogen waren.

Zudem führte dich ein Praktikum zu Rolls-Royce Power Systems AG. Möchtest du uns von den dabei gemachten Erfahrungen berichten?

Kieninger: Dort war ich in der Abteilung Diversity & Inclusion. Erstmals lernte ich dabei die Strukturen eines großen Unternehmens kennen. Neben Einblicken in den Themenkomplex Diversität im Unternehmenskontext erfuhr ich vor allem, wie interne Zielkonflikte entstehen und welche Möglichkeiten es gibt, diese auszugleichen. Insbesondere die Erkenntnis, dass das Ziel der Diversität nicht zwangsläufig im Widerspruch zu ökonomischen Prinzipien steht und diese beiden Ziele zusammen gedacht werden müssen, ist für mich besonders wertvoll gewesen.

Schließlich hast du dich als studentischer Diversitätsbeauftragter ehrenamtlich in der AG Diversität engagiert. Mit welchen Tätigkeiten war das Amt verbunden, welche Ziele hast du verfolgt und welche davon konntest du realisieren?

Kieninger: Ziel der AG Diversität ist es, in erster Linie eine vertrauensvolle Anlaufstelle für Fragen oder Beschwerden der Studierendenschaft zu sein. Darüber hinaus war es meinem Team und mir wichtig, durch Präsenz mehr Bewusstsein für Vielfalt, Offenheit und Respekt zu schaffen. Ein besonderer Erfolg war die Diversitätswoche, die wir nach mehreren Semestern erstmals wieder organisiert haben.

Warum hast du dich nach deinem Bachelorabschluss für einen Master in DS entschieden und welche Schwerpunkte legst du mittlerweile in deinem Masterstudium?

Kieninger: Ich habe mich für den DS-Master entschieden, weil er Digitalisierung und Technisierung auf unterschiedliche, vor allem kulturwissenschaftliche und philosophische Weise betrachtet. Vor allem die Seminare zu Zukunftsforschung, Science-Fiction und Soziologie der Zeit haben mich neugierig gemacht. Meinen Schwerpunkt lege ich zunehmend auf Cyborg-Theorien und auf das Mensch-Maschine-Verhältnis.

Was hast du dir nach dem Masterabschluss vorgenommen?

Kieninger: Eine Arbeit zu finden, die mir die Möglichkeit gibt zu gestalten. Ich setze mir bewusst keine Ziele, sondern lasse mich von Chancen und Zufällen leiten.

Was machst du, wenn du nicht gerade mit dem Studieren beschäftigt bist?

Kieninger: Ich schaue Filme und Serien, verfolge gesellschaftliche und politische Debatten, lese Romane.

Du bist in Singen geboren, in Tuttlingen zur Schule gegangen und zum Studium nach Friedrichshafen. Was bedeutet dir das Leben am Bodensee?

Kieninger: Ich bin zwar nur wegen des Studiums hergezogen und nicht wegen des Sees, aber natürlich bedeutet mir der Bodensee sehr viel. Er ist für mich Heimat, Urlaub und Inspiration zugleich.

Titelbild:

| ZU/Lena Reiner


Bilder im Text:

| ZU/Lena Reiner & ZU/Ilja Mess

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