Angewandte Wissenschaft

Behnke: Die Wahlrechtsreform ist gerecht, löst Probleme und stärkt die Erststimme

Text & Fotos: Luis Lemmen
14.04.2023
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Mit aktuell 736 Abgeordneten im Bundestag ist das deutsche Parlament nach dem chinesischen das größte der Welt. Der aufgeblähte Bundestag verschlingt unnötig Steuergeld und ist durch die hohe Anzahl an Abgeordneten langsamer in seiner Entscheidungsfindung. Dass der Bundestag verkleinert werden muss, darüber besteht parteiübergreifend Konsens. Die Frage ist nur: Wie? Die Ampel-Parteien stimmten gegen den Willen von CDU/CSU und Linke für eine Reduktion der Sitze auf 630, die Abschaffung der Überhangmandate und das Ende der Grundmandatsklausel.

Im Rahmen einer Podiumsdiskussion im Gastraum “Freiräume” in Konstanz verteidigte Prof. Behnke die umstrittene Wahlrechtsreform. Als Mitglied der Kommission zur Reform des Wahlrechts ist sie auch das Ergebnis seiner Arbeit. Mit ihm in der Runde saßen Dr. Johannes Fechner, seit 2013 für die SPD im Bundestag, Dr. Lina Seitzl, seit 2021 für die SPD im Bundestag und Kim Naomi Bucher, stellvertretende Vorsitzende der Verfassten Studierendenschaft an der Universität Konstanz. Moderiert wurde die Abendveranstaltung von Dominik Greis.

Dominik Greis (Moderator), Kim Naomi Bucher (stellv. Vorsitzende der Verfassten Studierendenschaft an der Universität Konstanz), Dr. Johannes Fechner (SPD, MdB), Prof. Dr. Joachim Behnke (Mitglied der Kommission zur Reform des Wahlrechts), Dr. Lina Seitzl (SPD, MdB); (v .l. n. r.).
Dominik Greis (Moderator), Kim Naomi Bucher (stellv. Vorsitzende der Verfassten Studierendenschaft an der Universität Konstanz), Dr. Johannes Fechner (SPD, MdB), Prof. Dr. Joachim Behnke (Mitglied der Kommission zur Reform des Wahlrechts), Dr. Lina Seitzl (SPD, MdB); (v .l. n. r.).

Behnke: Wahlrechtsreform löst größtes Problem

“Das größte Problem des aktuellen Bundestags sind die Überhangmandate", erklärt Behnke. Durch sie ist allen Kandidaten, die mit der Erststimme ihren Wahlkreis gewonnen haben, ein Platz im Bundestag gesichert. Falls die Anzahl der gewonnen Wahlkreise größer ist als die Anzahl der Plätze nach den Zweitstimmen, ziehen die Wahlkreisgewinner trotzdem in den Bundestag ein. Alle anderen Parteien erhalten im Gegenzug Ausgleichsmandate, sogenannte Überhangmandate, die sie anhand ihrer Landesliste vergeben. Diese Überhangmandate sorgen dafür, dass der Bundestag immer größer wird.

Damit ist jetzt Schluss. Der Einfluss der Erststimme auf die Sitzverteilung im Bundestag ist durch die Wahlrechtsreform abgeschafft, die Überhangmandate sind ab 2025 Geschichte. “Ich habe das Gefühl, die Erststimme wird geschwächt - das macht mir Bauchschmerzen”, äußert ein Herr aus dem Publikum. Behnke widerspricht: Die Bedeutung der Direktmandate verändere sich nicht durch die Wahlrechtsreform, “weil der Anteil der Direktmandate an allen Mandaten ja nicht kleiner wird, als wenn wir den Bundestag durch Ausgleichsmandate vergrößern.”

Einfach erklärt: Durch den Wegfall der Überhangmandate ziehen zwar nicht mehr garantiert alle Gewinner des Direktmandats in den Bundestag ein, dafür fallen aber die zusätzlichen Listenplätze der anderen Parteien weg. Behnke erläutert: „Der Anteil [der Direktkandidaten im Bundestag] bleibt ungefähr gleich, möglicherweise ist er sogar größer. Insofern gibt es hier gar nicht diese Verschlechterung der Situation, die häufig behauptet wird.“


Wie gerechtfertigt ist die Kritik großer Parteien an der Wahlrechtsreform?

Das Problem der verwaisten Wahlkreise

An einem fiktiven Beispiel zeigt Behnke, wie die Platzverteilung in Zukunft ablaufen könnte: “Nehmen wir an, eine Partei gewinnt zehn Direktmandate, aber ihr stehen nach den Zweitstimmen nur sechs Plätze im Bundestag zu. Dann bekommen die sechs [Wahlkreisgewinner] mit dem jeweils höchsten Stimmenanteil in ihrem Wahlkreis die Plätze.”

Das wirft das Problem der verwaisten Wahlkreise auf. Das sind Wahlkreise, die keine Repräsentation im Bundestag haben, weil ihr Wahlkreisgewinner wegen fehlender Zweitstimmen der Partei nicht in den Bundestag einziehen konnte. Besonders für die CSU könnte das zum Problem werden. Sie gewann in Bayern fast alle Direktmandate, erhielt bundesweit aber nur 5,2 Prozent der Stimmen. Um eine Unterrepräsentation der CSU zu verhindern, bestehe für die CSU allerdings die Möglichkeit einer Listenvereinigung mit der CDU, erklärte SPD-Bundestagsabgeordneter Dr. Johannes Fechner. So könnte die Anzahl verwaister Wahlkreise möglichst gering gehalten werden. Zudem wurde die Zahl der Plätze im Bundestag aus dem ersten Wahlrechtsreform-Entwurf von 598 auf 630 erhöht, ebenfalls um die Zahl verwaister Wahlkreise zu minimieren.

Streitpunkt Grundmandatsklausel

Neben den Überhangmandaten fällt durch die Wahlrechtsreform auch die Grundmandatsklausel weg. Die Linkspartei würde ohne diese aktuell gar nicht im Bundestag sitzen: Mit ihren 4,9 Prozent sind sie knapp an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert, durften aufgrund ihrer mehr als drei gewonnenen Direktmandate aber dennoch ins Parlament einziehen.

Ginge es nach Prof. Behnke, hätte die Grundmandatsklausel nicht unbedingt abgeschafft werden müssen. Doch auch er findet: “Drei gewonnene Wahlkreise mit wenig Prozent sind noch kein Recht auf bundesweite, starke Repräsentation." Durch die Wahlrechtsreform wird niemand benachteiligt: Behnke betont, dass auch die FDP und Grünen in der Vergangenheit bereits an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert sind. Zur Angst von CSU und Linke sagt er nur: “Es würde ihnen nichts drohen, was nicht anderen Parteien auch schon passiert ist.”

Dr. Johannes Fechner (SPD, MdB), Prof. Dr. Joachim Behnke, Dr. Lina Seitzl (SPD, MdB); (v. l. n. r.: ).
Dr. Johannes Fechner (SPD, MdB), Prof. Dr. Joachim Behnke, Dr. Lina Seitzl (SPD, MdB); (v. l. n. r.: ).

Fehlender parteiübergreifender Konsens

Ein weiterer Kritikpunkt der Union und Linken: Eine Änderung des Wahlrechts sollte nur mit Zustimmung aller Parteien beschlossen werden. Auch Behnke bemängelte die fehlende Zustimmung aller Parteien, sah aber keinen anderen Weg: “Wahlrechtsreformen müssen im Konsens verabschiedet werden, doch einzelne Akteure verweigern sich, weil sie keinen Vorteil bekommen.” In den vergangenen Jahren scheiterten zwei Reform-Vorschläge der Union, allerdings weil beide Vorschläge zum Vorteil der eigenen Partei gewesen wären.

Alles in allem zeigen sich Behnke und die Bundestagsabgeordneten der SPD sehr zufrieden. “Wir haben die Einhaltung der Sollgröße von 630 sichergestellt, die Verzerrung der Sitzverhältnisse durch Überhangmandate abgeschafft und den ungerechtfertigten Vorteil [der CSU] ausgeräumt”, fasst Behnke zusammen. Die Union und Linkspartei sehen das anders und kündigten bereits Klage vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe an.

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