Akademisierung

Ich weiß, dass ich nichts weiß

Wir haben ein veraltetes Bild von praktischen Berufen. Erforderliches Wissen, Können und Kenntnisse haben hier teils eine Komplexität erreicht, die den akademischen Berufen nicht nachsteht, aber kaum in dem Sinne thematisiert wird.

Professor Dr. Gertraud Koch
 
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    Zur Person
    Professor Dr. Gertraud Koch

    Professor Dr. Gertraud Koch ist Inhaberin des Lehrstuhls für Kommunikationswissenschaft & Wissensanthropologie an der Zeppelin Universität. Koch hat sowohl Kulturanthropologie und Europäischen Ethnologie,  Politikwissenschaft als auch Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft in Frankfurt und Tübingen studiert. Gearbeitet und geforscht hat sie unter anderem in Berlin und Konstanz. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich mit den Themen E-Learning, Interkulturelle Kommunikation, Anthropologie des Lernens, Gender, Kulturgeschichte betrieblicher Bildung oder auch Kulturanalyse von Technik.

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    Factbox
    Zum Weiterlesen: Wissensarbeit und Arbeitswissen

    „Wissensarbeit und Arbeitswissen. Zur Ethnografie des kognitiven Kapitalismus." Ausgehend von der Erkenntnis, dass Wissen prozessual und kontextabhängig ist, werden in diesem Band dessen Erzeugung und Nutzung mit ethnografischen Methoden untersucht. Dabei geht es neben der vieldiskutierten "Wissensarbeit" auch um das "Arbeitswissen" überhaupt. Anhand ganz unterschiedlicher Berufszweige von den Creative Industries über Forschung und Verwaltung bis zum medizinischen und pflegerischen Bereich wird dargestellt, wie sich der Umgang mit Wissen im Zeichen zunehmender Ökonomisierung verändert.
    Herausgegeben wurde der Band von Professor Dr. Gertraud Koch und Prof. Dr. Bernd Jürgen Warneken von der Universität Tübingen.

    Unterscheidung von Wissensformen

    Man kann zwischen kodifizierbarem Wissen und stummem Wissen unterscheiden. Ersteres lässt sich verschriftlichen oder anderweitig medial dokumentieren; stummes Wissen (tacit knowledge) wird meist nicht expliziert und ist auch nur schwer zu explizieren. Beispiele dafür sind das körpergebundene Wissen des Fahrradfahrens oder Schwimmens und Erfahrungswissen, das Experten zur Lösung von Problemen anwenden. Das ist mehr als bloß Regelwissen, sondern wird gerade dann sichtbar und besonders wertvoll, wenn die explizierbaren Regeln nicht funktionieren. Je nach Kontext, in dem Wissen angewendet wird, lassen sich weitere Wissensformen ergänzen. Zum Beispiel emotionales Wissen oder kulturelles Wissen. Zwischen den verschiedenen Wissensformen gibt es Überlappungen, weil Wissen zwar ein abstrakter Begriff ist, sich aber erst in Praxis und Anwendung zeigt.

    Mehr zu emotionaler Arbeit

    Über emotionale Arbeit wird Professor Dr. Getraud Koch gemeinsam mit Dr. Stefanie Everke Buchanan den Band „Pathways to Empathy. New Studies on Commodification, Emotional Labor and Time Binds“ herausbringen. Es geht dabei um die der Vermarktlichung von privaten und intimen Lebensbereichen, deren Entwicklungen, Grenzen und Widerstände. Der Sammelband ist aus einer Tagung zu Ehren von Arlie Russel Hochschild entstanden, die im November 2011 an der Zeppelin Universität stattfand. Er wird im Frühjahr 2013 im Campus Verlag in der Reihe „Work and Everyday Life“ erscheinen.

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Im Gegensatz zu Wissensarbeit ist von Arbeitswissen eher selten die Rede. Warum greifen Sie es explizit gemeinsam auf?

Professor Dr. Gertraud Koch: Wissensarbeit und Wissensgesellschaft sind Schlagwörter, die im öffentlichen Bewusstsein mittlerweile einen festen Platz haben. Wissensarbeiten, also kognitive und kreative Tätigkeiten in Forschung und Entwicklung, in Bildung und Beratung, gelten in einer Wissensgesellschaft als die wichtigsten Tätigkeiten. Arbeitswissen wird demgegenüber kaum thematisiert, dabei ist es ebenso wichtig – gerade auch für die Wissensarbeit. Man braucht auch hier Wissen darüber, wie man beispielsweise ein Projekt organisiert, wie man einen Artikel schreibt, wie man in Labors zu wissenschaftlichen Ergebnissen kommt. In diesen Dingen steckt sehr viel praktisches Wissen, das selten reflektiert, sondern routiniert angewendet wird.

Wie hängt das eine denn mit dem anderen konkret zusammen?

Koch: Ohne Arbeitswissen wäre Wissensarbeit nicht möglich. Jede Gesellschaft existiert aufgrund ihres Wissens über die Welt und wie in dieser zu handeln ist, unabhängig davon, ob sie sich als Wissensgesellschaft versteht oder nicht. Aber mehr denn je in der Geschichte sehen wir uns heute als wissende Wesen und bestimmen uns als Menschen von diesem Wissen her.

Wissensarbeit müsste also differenzierter betrachtet werden?

Koch: Ja, spannend finde ich in dem Zusammenhang gerade die Ideologie um die Wissensarbeit. Auch Wissensarbeiter haben viele reproduktive Tätigkeiten, sie generieren nicht ständig neues Wissen. Wenn ich mir eine Datenbank erstelle, ist das keine kreative Tätigkeit, sondern schlichte Anwendung von Arbeitswissen. Natürlich arbeite ich auch hierbei mit dem Kopf und meinem Wissen, aber es ist doch eine Arbeit, die sehr praktische, repetitive und auch stupide Elemente umfasst.

Sie glauben demnach, dass Ihr eigener Beruf gesellschaftlich überbewertet wird?

Koch: Wissensarbeit wird an vielen Punkten überbewertet. Denn es fehlt vielfach und wohl zunehmend die Einschätzung und vielleicht auch der Wille, anzuerkennen, wie viel Komplexität, wie viele Fertigkeiten und Kenntnisse in den sogenannten praktischen Tätigkeiten liegen. Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass Wissensarbeit und Arbeitswissen zwei Seiten einer Medaille sind und auch die sogenannten „Wissenswerker“, diejenigen also, die Wissen anwenden und einsetzen, durchaus neues Wissen produzieren, auch wenn das nicht ihr Hauptanliegen sein mag. Es geht Bernd Jürgen Warneken und mir – Tagung und Buch sind in Zusammenarbeit mit einem Tübinger Kollegen entstanden – darum, ein differenziertes Bild auch von den Wertigkeiten zu entwickeln, die verschiedenen Wissensformen in der ökonomischen Verwertung zugeschrieben wird.

Zum Weiterlesen: Wissensarbeit und Arbeitswissen.


Sie unterscheiden zwischen verschiedenen Wissensformen und gehen davon aus, dass sich deren Gewichtung in der Arbeitswelt verändert. Welches Wissen wird künftig wichtiger?

Koch: Alles, was sich in Zertifikaten und Abschlüssen festhalten lässt, wird zum Mehrwert, auch wenn häufig unklar ist, welche Kompetenzen tatsächlich dahinter stehen. Trotzdem ergeben sich aus den Titeln und Zertifikationen Folgen für Bezahlung und Zugangsmöglichkeiten zu bestimmten gesellschaftlichen Feldern. Pierre Bourdieu hat das sehr schön mit seiner Perspektive auf das kulturelle Kapital beschrieben. Sehr gefragt ist nach wie vor technisch-naturwissenschaftliches Wissen. Darüber hinaus sind kommunikative, planende und beratende Tätigkeiten im Kommen und werden in Zukunft stärker nachgefragt werden.

Unterscheidung von Wissensformen


Spielt es eine Rolle, wer die Bewertungen durchführt?

Koch: Ja. Während der Ausbildung und auch später in der Berufsausübung beurteilen meist Vorgesetzte mit einer formal wesentlich höheren Qualifikation als der Beurteilte. Die praktischen Tätigkeiten, die sie beurteilen, könnten sie dabei oft selbst gar nicht ausführen. Die Einschätzungen des beurteilenden Ingenieurs und die der praktisch Tätigen klaffen auseinander, im Zweifelsfall entscheidet aber immer der formal besser Qualifizierte. Als Gesellschaft glauben wir an die Überlegenheit der akademischen Bildung.

Welche Folgen ergeben sich hieraus für die Entwicklungsfähigkeit einer Gesellschaft?

Koch: Nun, Kanada ist dafür ein interessantes Beispiel. Hier hat die Idee der Wissensgesellschaft sehr gut gegriffen und plötzlich stellt man dort fest, dass Zimmermänner und viele andere Handwerksberufe fehlen, weil Jugendliche lieber studieren. Die mangelnde Wertschätzung gegenüber handwerklichen Berufen hat dazu geführt, dass Basisbereiche nicht mehr abgedeckt werden können. Dazu kommt, dass das Bild veraltet ist, das wir von diesen Berufen haben. Denn erforderliches Wissen, Können und Kenntnisse haben in diesen Berufen eine Komplexität erreicht, die den akademischen Berufen nicht nachsteht, aber kaum in dem Sinne thematisiert wird.

Kommt es durch den Arbeitskräftemangel nicht zu einer Aufwertung der Berufe?

Koch: Das ist die Frage. Knappheit könnte natürlich zu einer gewissen Aufwertung führen. Der Arbeitsmarkt ist aber global organisiert. Oft wird der Mangel einfach durch Zuwanderer aus Niedriglohnländern kompensiert. Die Tätigkeit an sich wird dabei nicht aufgewertet, häufig ist sogar das Gegenteil der Fall. Angenommen, Sie geben bestimmte Bereiche, wie zum Beispiel Haushaltsarbeit an eine Migrantin, typischerweise ja auch wieder an eine Frau, ab. Eine Aufwertung der Tätigkeit ist damit nicht verbunden.

Auch im Privaten wird Wissen zunehmend wichtiger. Sie sprechen gar von einem Wissensregime.

Koch: Ja, zum Beispiel im Bereich der Kindererziehung wird das deutlich. Muttersein ist heute schon fast eine wissenschaftliche Tätigkeit. Mütter müssen über Erziehung Bescheid wissen, sie brauchen ein halbes Pädagogikstudium, bis die Kinder groß und durch die Schule gekommen sind. Erziehungsarbeit rund um das Kind passiert sehr stark aus einer verwissenschaftlichten Perspektive heraus. Wissenschaften bestimmen die Normen, die das Kind im Laufe seines Aufwachsens erreichen sollte. Eine Mutter, auch hier ist das meist noch immer primär eine Aufgabe der Frauen, muss all diese Informationen aufnehmen und den von außen gesetzten Erwartungen gerecht werden, auch wenn sie eigentlich nicht zur Wissensarbeit qualifiziert ist.

Ein Kapitel widmet sich explizit der emotionalen Arbeit. Welche Rolle spielt diese?

Koch: Emotionale Arbeit und das dafür erforderliche emotionale Wissen ist neben kognitiven und körperlichen Kapazitäten ein Teil der Arbeitskraft: Herz, Kopf und Hand. Arlie Russel Hochschild hat gezeigt, dass die emotionale Arbeitskapazität die anderen beiden Arbeitskapazitäten ergänzt und nur die gemeinsame Betrachtung der drei Dimensionen zu einem adäquaten Bild von Arbeit beziehungsweise der Arbeitskraft führen kann. Emotionen sind ein Modus von Wissen. Man lernt Gefühlsregeln, das heißt, was man wann fühlen darf. In Service-Jobs ist es zum Beispiel wichtig, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Auch bei der medizinischen Diagnostik spielt emotionale Arbeit eine große Rolle, oder müsste sie spielen.

Mehr zu emotionaler Arbeit


Könnte die Entdeckung der emotionalen Arbeitskapazität nicht dazu führen, dass bestimmte Arbeitsbereiche wichtiger werden?

Koch: Emotionalität wird ja vor allem den weiblichen Bereichen zugeordnet und das sind oft auch die Bereiche, in denen eine monetäre und symbolische Aufwertung stattfinden sollte. Die Entdeckung der emotionalen Arbeitskapazität hat nicht dazu geführt, dass dies geschieht, etwa im Bereich der Erzieher und Erzieherinnen. Andererseits stellen wir im Managementbereich fest, dass emotionale Intelligenz sehr hoch bewertet wird: Wenn eine Managerin Emotionen einsetzen kann, um ihre Mitarbeiter zu führen, wenn sie Emotionen steuern und produktiv machen kann, wenn sie bei anderen Emotionen erwecken und auch selbst bestimmte Gefühle performen kann – wird all das als Teil der Professionalität positiv bewertet und entsprechend honoriert. Kurzum: Die Entdeckung der emotionalen Arbeitskapazität hat nicht zu einer generellen Aufwertung dieser Arbeitsbereiche geführt, sondern hat die Hierarchisierung eher reproduziert.



Bild: flickr/ Kevin Moore

Gertraud Koch, Bernd Jürgen Warneken (Hrsg.): „Wissensarbeit und Arbeitswissen. Zur Ethnografie des kognitiven Kapitalismus", Campus Verlag, 424 Seiten, ISBN-10: 3593397838, ISBN-13: 978-3593397832

Wissensarbeit und Arbeitswissen
 
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