Wirtschaft und Politik in Russland

Russische Oligarchen und das Sozialkapital

Wie erhält man sich in einem von Oligarchen geprägten Umfeld? Naja, stell dich gut mit den entscheidenden Leuten, tue ihnen Gefallen und fordere ihre Loyalität in anderen Momenten wieder ein, pflege deine Kontakte stetig, du weißt nie, wann du sie brauchst.

Lidwina Gundacker
ZU-Bachelor-Alumna und Trägerin des Best Bachelor Thesis Awards
 
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    Zur Person
    Lidwina Gundacker

    Lidwina Gundacker zog es nach ihrem Abitur in Nürnberg zunächst an die Zeppelin Universität, wo sie ihr Studium der Soziologie, Wirtschaft und Politik Anfang 2016 abschloss. Für ihre Bachelorthesis zum Thema „Russische Oligarchen und Sozialkapital in russischen Regionen“ wurde sie mit dem Best Bachelor Thesis Award ausgezeichnet. Für ihren Master hat es sie nun nach England verschlagen – dort studiert sie „Economis, State and Society“ am University College London. 

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Bevor es um das Inhaltliche geht: Wie bist du überhaupt auf dein Thema gestoßen?

Lidwina Gundacker: Ich habe von einem russischen Großunternehmer gehört und gelesen, dass dieser im Agrarbereich zum Teil ganze Landstriche beschäftigt, sich aber auch im sozialen Bereich engagiert – das heißt, dass er zum Beispiel Straßen und Brücken oder Schulen errichtet, soziale Events ausrichtet oder eine Feuerwehr aufbaut. Ich habe mich gefragt: Wie wirkt es sich auf die Bevölkerung aus, wenn wirtschaftliche Macht so konzentriert ist? Profitiert sie davon, weil ein solcher Unternehmer einen relativ sicheren Stand hat und darum auch mehr in die Region investiert? Oder hat es negative Auswirkungen, weil der Unternehmer seine Macht und seinen Einfluss für seine Zwecke missbraucht? Für die Ukraine gibt es ein Paper, das zeigt, dass oligarchisch geführte Firmen eine höhere Produktivität aufweisen als nicht oligarchisch geführte – und auch für Russland gibt es eine vergleichbare empirische Studie. Der Schlüssel ist, dass den großen Bossen schlichtweg andere Kanäle zu politischen Entscheidern und anderen Business-Männern offenstehen, sodass sich ihre Investitionen stärker auszahlen. Konkurrenten ausstechen, mit dem Fiskus Karten spielen, Medienkampagnen für Politiker im Austausch für politische Zugeständnisse oder Business-Möglichkeiten sind nur einige Beispiele. Aber wer zahlt den Preis dafür? Vermutlich die Leute außerhalb der politischen und wirtschaftlichen Elite, die ganz normale Bevölkerung. Und dieses Verhältnis von Oligarchen und Bevölkerung wollte ich beleuchten. In meinem Humboldt-Projekt habe ich zuerst den Zusammenhang von Einkommensungleichheit und Oligarchen untersucht, bevor ich mich dann in der Bachelorarbeit dem zugegeben weitaus komplexeren Konstrukt des Sozialkapitals gewidmet habe.

Leonid Wiktorowitsch Michelson – der Reichste. Sein Vermögen wird auf über 15 Milliarden US-Dollar geschätzt. Der CEO und Vorsitzende von Novatek hat sein Vermögen vor allem als Anteilseigner des Ergas und -öl fördernden und verkaufenden Unternehmens und von Sibur, dem größten russischen Petrochemie-Konzern, gemacht. Mit Novatek gilt er darüber hinaus als Hauptsponsor des Russischen Fußballbundes.
Leonid Wiktorowitsch Michelson – der Reichste. Sein Vermögen wird auf über 15 Milliarden US-Dollar geschätzt. Der CEO und Vorsitzende von Novatek hat sein Vermögen vor allem als Anteilseigner des Ergas und -öl fördernden und verkaufenden Unternehmens und von Sibur, dem größten russischen Petrochemie-Konzern, gemacht. Mit Novatek gilt er darüber hinaus als Hauptsponsor des Russischen Fußballbundes.

Du schreibst in deiner Bachelorarbeit über den Zusammenhang von Oligarchen und Sozialkapital. Kannst du zunächst noch einmal kurz beschreiben, was genau Oligarchen sind und durch welche Charakteristika sich diese auszeichnen? Gibt es bestimmte „Mindestzahlen“, die jemanden zum Oligarchen machen?

Gundacker: Das Wort „Oligarch“ hat oft eine stark negative Konnotation, vor allem in den Medien. Das scheint praktisch, denn man weiß gleich, wer der Böse ist. Wenn umgangssprachlich von einem Oligarchen gesprochen wird, denke ich an einen Geschäftsmann – soweit ich das untersucht habe, sind es in Russland tatsächlich nur Männer –, der ein Konglomerat von vielen kleinen und großen Firmen unter seiner Kontrolle hat und dadurch auch politische Macht ausübt, die über die eines Standard-Unternehmers hinausgeht. Für meine Studie habe ich mich an die Definition gehalten, die die Autoren des zugrundeliegenden Datensatzes festgelegt haben: Ein Geschäftsmann ist dann ein Oligarch, wenn die Firmen unter seiner Kontrolle insgesamt jährliche Verkäufe von 20 Milliarden Rubel übersteigen – das waren 2003, als die Daten erhoben wurden, ungefähr 700 Millionen Dollar – oder in diesen Firmen zusammengenommen über 20.000 Leute beschäftigt sind. Sergei Guriev und Andrei Rachinsky, die Autoren dieser Daten, legen außerdem fest, dass der Geschäftsmann auf der nationalen Ebene politischen Einfluss nehmen können muss – was bei allen Bossen dieser Größenordnung der Fall ist.

Welche Macht üben Oligarchen aus? Wo sind sie tätig? Und: Wie sind sie an diese Macht gekommen?

Gundacker: Da könnte ich jetzt weit ausholen. Fragt man einen Russen nach den frühen 1990ern, dann kann es gut sein, dass er bloß abwinkt und den Kopf schüttelt. Es herrschte, milde gesagt, ein riesiges Durcheinander, ein System war zerbrochen, aber längst noch kein neues etabliert. Es gab zum Teil anarchische Zustände auf den Straßen, goldene Zeiten für Straßengangs und andere Verbrecher, die Grundversorgung war lahmgelegt. Erst musste eine neue Führung, unter Boris Yeltsin, wieder die Kontrolle gewinnen. Und in dieser Zeit wurden die Ressourcen des Landes neu verteilt – Fabriken, Kontrolle über Rohstoffe, politische Ämter –, keinem bestimmten Schema folgend. Kontakte, Einfluss und wohl ein bisschen Geschick waren entscheidend. Manager von Staatsunternehmen wurden zu deren Besitzern, Parteifunktionäre zu Managern, das Soviet Ministry of Gaz Industry wurde zu Gazprom und so weiter. So verbandelten sich politische und wirtschaftliche Macht zu einem untrennbaren Geflecht.


Wo sind Oligarchen tätig? Nun, man findet sie in einer ganzen Spannbreite von Sektoren. Verkaufszahlenmäßig sind sie nicht überraschend am stärksten im Bereich der Rohstoffe und Energieversorgung sowie in der Industrie. Die oligarchische Produktion von Wodka lag 2003, gemessen an Verkaufszahlen, übrigens noch weit hinter Milch, Bier und Tabak, aber immerhin vor Fisch und Soft Drinks. An diese Macht sind diese Bosse nicht einfach so gekommen – in der Literatur wird von den 1990ern in Russland auch als das Jahrzehnt des „state capture“ durch die neue Business-Elite gesprochen. Der neu entstehende russische Staat, komplett pleite und ramponiert, war ziemlich schnell völlig eingenommen durch die neuen Bosse und abhängig von deren Mitteln. Man könnte sagen, dass auch die politischen Machthaber, die an der Macht bleiben wollten, in dieser Abhängigkeit standen – von den finanziellen Mitteln, der medialen Macht, den Netzwerken und den anderen Ressourcen der Oligarchen. Und so konnten die Oligarchen direkten Einfluss nehmen auf politische Entscheidungen, Umverteilung, Neuverteilung von Ressourcen, Geschäftsaufträge, Gesetzesgrundlagen, Personalentscheidungen und mehr.


Putin dagegen unterband die offensichtliche politische Einflussnahme von Oligarchen auf der nationalen Ebene und machte einige ganz große Namen öffentlichkeitswirksam unschädlich, was aber die Aktivität oligarchischer Geschäftsmänner nicht minderte, sondern höchstens in die Hinterzimmer und auf die regionale und lokale Ebene verschob.

Arkadi Romanowitsch Rotenberg – der Putin-Freund. Ein Teil seines Vermögens fußt wohl auch auf der Protektion Putins, den er seit frühen Kindertagen unter anderem als Judo-Partner unterstützte. Seine guten politischen Beziehungen machten sich aber auch im Vorfeld der Olympischen Spiele in Sotschi sichtbar: Rotenberg gewann Ausschreibungen gegen einen kostengünstigeren Mitbewerber und kassierte Aufträge im Wert von über sieben Milliarden Dollar. 2014 verhängten die USA und EU eine Vermögenssperre im Zuge der Krim-Krise gegen ihn – der Italienische Staat beschlagnahmte sogar Besitz im Wert von 40 Millionen Dollar. Daraufhin wurde in Russland ein Gesetz erlassen, nach dem im Ausland Enteignete von Russland entschädigt werden können – auch bekannt als „Rotenberg-Gesetz“.
Arkadi Romanowitsch Rotenberg – der Putin-Freund. Ein Teil seines Vermögens fußt wohl auch auf der Protektion Putins, den er seit frühen Kindertagen unter anderem als Judo-Partner unterstützte. Seine guten politischen Beziehungen machten sich aber auch im Vorfeld der Olympischen Spiele in Sotschi sichtbar: Rotenberg gewann Ausschreibungen gegen einen kostengünstigeren Mitbewerber und kassierte Aufträge im Wert von über sieben Milliarden Dollar. 2014 verhängten die USA und EU eine Vermögenssperre im Zuge der Krim-Krise gegen ihn – der Italienische Staat beschlagnahmte sogar Besitz im Wert von 40 Millionen Dollar. Daraufhin wurde in Russland ein Gesetz erlassen, nach dem im Ausland Enteignete von Russland entschädigt werden können – auch bekannt als „Rotenberg-Gesetz“.

In deiner Arbeit vergleichst du den Zusammenhang zwischen der Existenz von Oligarchen und dem Sozialkapital in einer Region. Wie hast du den Faktor des Sozialkapitals gemessen?

Gundacker: Ich verwende zwei sehr gängige Indikatoren: Zum einen das Maß an Vertrauen, das Menschen in verschiedene Gruppen haben, zum anderen die Dichte von sozialen Netzwerken, in denen sich Menschen bewegen. Da ein generelles Level von Vertrauen nicht sehr aussagekräftig ist, habe ich unterschieden zwischen verschiedenen Gruppen, beispielsweise Familie, Nachbarn, Unbekannte, in die man mehr oder weniger Vertrauen haben kann. Die Netzwerkdichte bilde ich durch die Häufigkeit ab, mit der sich Menschen zum einen mit Verwandten und zum anderen mit Freunden treffen. Die Datengrundlage sind hier repräsentative Umfragedaten, die die European Bank of Reconstruction and Development regelmäßig in postsowjetischen Staaten erhebt.

Du sprichst von formellen und informellen Institutionen – inwiefern gelten formelle Institutionen in den von dir untersuchten Gebieten als gescheitert und werden durch informelle, persönliche Netzwerke ersetzt?

Gundacker: Meine Analyse zeigt, dass Bestechung in unterschiedlichen Alltagssituationen, zum Beispiel im Umgang mit der Verkehrspolizei oder einer Behörde, weitaus üblicher ist als in Regionen, in denen Oligarchen stärker aktiv sind. Gleichzeitig wird dort die Performance der lokalen, regionalen und nationalen Regierung signifikant schlechter bewertet als in Regionen, in denen Oligarchen weniger stark vertreten sind. Außerdem komme ich zu dem Ergebnis, dass je stärker Oligarchen in einer Region sind, desto eher werden politische Kontakte als wichtigster Faktor für Erfolg im Leben genannt. Aus all dem könnte man den Schluss ziehen, dass in oligarchischen Regionen die formellen Institutionen, also die Regierungen, keinen besonders überzeugenden Job machen, und stattdessen informelle Praktiken vorherrschen und persönliche Kontakte extrem wichtig sind. Wie erhält man sich in so einem Umfeld? Naja, stell dich gut mit den entscheidenden Leuten, tue ihnen Gefallen und fordere ihre Loyalität in anderen Momenten wieder ein, pflege deine Kontakte stetig, du weißt nie, wann du sie brauchst. Das bestätigt sich dann, wenn man sich die Netzwerkdichte ansieht – die ist in oligarchischen Regionen signifikant höher. Das sind alles für sich gesehen keine Kausalzusammenhänge, aber es zeichnet trotzdem ein recht kohärentes Bild: Wo Oligarchen stärker vertreten sind, da sind auch Korruption und Patronage besonders üblich, während Regierungen ein schlechtes Bild abgeben – gleichzeitig werden die persönlichen Netzwerke stärker frequentiert als anderswo.


Gescheitert, nicht gescheitert: Dazu hat Jarko Fidrmuc, mit dem ich weiterhin zu dem Thema arbeite, vielleicht eine kritischere Sichtweise als ich. Ich finde es schwierig, von gescheiterten oder nicht gescheiterten Institutionen zu sprechen, denn das setzt ja irgendwie voraus, zu wissen, was dieses Russland braucht, um sich erfolgreich zu entwickeln. In welchem Sinne erfolgreich? Auch das definiert die westliche Denkweise. Ich hoffe, nicht selbst in diese Falle getappt zu sein, aber gerade westliche Beobachter gehen von dem einen „richtig“ aus, und jede Abweichung wird als Scheitern deklariert. Das heißt jetzt nicht, dass ich Staatswillkür oder Vetternwirtschaft gutheiße. Aber man darf, wenn man Entwicklungen in Russland verstehen will, nicht außer Acht lassen, wo das Land historisch herkommt und wie sich die so vielschichtige russische Gesellschaft über Jahrhunderte entwickelt hat.

Roman Arkadjewitsch Abramowitsch – der Bekannte. Doch nicht aufgrund seiner Tätigkeit als Gouverneur der Region Tschukotka, der er acht Jahre lang nachkam, sondern durch den Kauf des Fußballvereines FC Chelsea, für den er seit 2003 insgesamt um die eine Milliarde Euro ausgegeben hat. Trotz einer wahrscheinlich nicht einfach Kindheit – im Alter von vier Jahren wurde er zum Vollwaisen – hat er es im Zuge der Wirtschaftsöffnung Russlands geschafft, sich nach oben zu arbeiten und galt beim Machtwechsel von Jeltsin zu Putin 2000 gar als wichtigster Oligarch in Putins Umfeld, der angeblich sämtliche Regierungsmitglieder einer Prüfung unterzogen habe.
Roman Arkadjewitsch Abramowitsch – der Bekannte. Doch nicht aufgrund seiner Tätigkeit als Gouverneur der Region Tschukotka, der er acht Jahre lang nachkam, sondern durch den Kauf des Fußballvereines FC Chelsea, für den er seit 2003 insgesamt um die eine Milliarde Euro ausgegeben hat. Trotz einer wahrscheinlich nicht einfach Kindheit – im Alter von vier Jahren wurde er zum Vollwaisen – hat er es im Zuge der Wirtschaftsöffnung Russlands geschafft, sich nach oben zu arbeiten und galt beim Machtwechsel von Jeltsin zu Putin 2000 gar als wichtigster Oligarch in Putins Umfeld, der angeblich sämtliche Regierungsmitglieder einer Prüfung unterzogen habe.

Wie sehen diese Netzwerke aus?

Gundacker: Hier wäre es jetzt spannend, die Analyse mit einer qualitativen Untersuchung zu ergänzen. Meine Daten lassen es zu, zum Beispiel eine Aussage über das durchschnittliche Vertrauen in die Nachbarschaft zu treffen und wie das über die Regionen variiert. Das ganze Sozialkapital-Konzept und die Entstehung von Netzwerken ist aber so komplex und interdependent, dass sich das in keinem Fall über Zahlen abbilden ließe. Da würde sich eine Reise nach Russland, rein in die Tiefen der russischen Gesellschaft, auf jeden Fall lohnen.

Inwiefern hängen die Existenz informeller Institutionen und verschiedener Formen von Sozialkapital zusammen?

Gundacker: Informelle Institutionen, darunter handele ich in meiner Arbeit Korruption und Klientelismus ab. Sozialkapital, das hat bei mir die Kategorien Vertrauen und Netzwerke. Wo wird das Ei nun gelegt? Unmöglich, das zu bestimmen. Dem autokratischen Kaiserreich folgte das Sowjetregime, ein starker und omnipräsenter Staat, der in praktisch jede Sphäre bürgerlicher Aktivität hineinregierte. Auf wen verlasse ich mich da? Mit wem mache ich meine Geschäftchen, wem teile ich mich mit? Wer steckt mit wem unter einer Decke, wer bürgt für wen? Wer frisst aus welcher Hand, wem bin ich etwas schuldig? Dann ist trotz eines großen Netzwerks der Kreis an Personen, denen man vertraut, vielleicht eher klein, aber die Bindung dafür ziemlich eng. Die persönlichen Netzwerke, und dazu gehören auch Kontakte zu Politikern oder anderen Größen, tragen nahezu alle privaten und geschäftlichen Aktivitäten und bestimmen über den Erfolg – und das setzte sich auch nach dem Fall der Sowjetunion fort. Die politische und wirtschaftliche Sphäre war ohnehin gekennzeichnet von einem hohen Maß an Kontinuität, was Ämter und Praktiken anging.

Hast du mittlerweile einen Erklärungsansatz finden können, woran es liegen könnte, dass in Regionen mit starker Präsenz von Oligarchen mehr informelle Strukturen existieren und staatliche Strukturen schwächer ausgeprägt sind?

Gundacker: Das schließt sich genau da an. Die neue Business-Elite hat sich durch Deals mit der politischen Elite etabliert, und diese Praktiken setzen sich eben auch auf der regionalen Ebene fort. Manche Bereiche des sozialen Lebens sind dann eben nicht formell geregelt, sondern irgendwie anders – ein Gouverneur muss ja schon auch ein bisschen auf seine Popularität achten und bittet dann eben einen befreundeten Geschäftsmann, diesen oder jenen Bereich der sozialen Versorgung abzudecken, um ihm im Gegenzug diese oder jene Geschäftsmöglichkeit zu überlassen. Und wer jetzt kommt und höhere Formalität in sozialen oder politischen Prozessen in Russland fordert, schafft damit erst einmal nur mehr Möglichkeiten des Rent-Seekings durch Autoritäten. Das ist eines der Dinge, die wir im Westen verstehen lernen müssen, um mit Russland ernsthaft über Fortschritt reden zu können.

Alexander Jewgenjewitsch Lebedew – der Andere? Zumindest scheint er es zu versuchen – als Intellektueller und ehemaliges Durma-Mitglied. Im Interview mit dem Guardian sagte er über die anderen Oligarchen: „Ich denke, dass materieller Reichtum für sie eine sehr emotionale und geistige Sache ist. Sie geben eine Menge ihres Geldes für persönlichen Konsum aus. Sie lesen keine Bücher. Sie haben keine Zeit. Sie gehen zu keinen Ausstellungen. Sie denken, der einzige Weg, andere zu beeindrucken, sei, indem man eine Yacht kauft."
Alexander Jewgenjewitsch Lebedew – der Andere? Zumindest scheint er es zu versuchen – als Intellektueller und ehemaliges Durma-Mitglied. Im Interview mit dem Guardian sagte er über die anderen Oligarchen: „Ich denke, dass materieller Reichtum für sie eine sehr emotionale und geistige Sache ist. Sie geben eine Menge ihres Geldes für persönlichen Konsum aus. Sie lesen keine Bücher. Sie haben keine Zeit. Sie gehen zu keinen Ausstellungen. Sie denken, der einzige Weg, andere zu beeindrucken, sei, indem man eine Yacht kauft."

Du schließt deine Arbeit mit folgendem Zitat: „Develop personal relationships. Relationships are quite important in Russian business. You may not always be rewarded in cash (there are laws against bribery in Russia) but it always pays to be a sociable, reliable individual.” Hast du Ratschläge, wie man sich verhalten sollte, wenn man ein Business in Russland aufbauen will?

Gundacker: Das ist tatsächlich ein Ratschlag von KPMG – your roadmap to successful investments in Russia. Ich finde die Ironie darin wirklich amüsant, der Versuch das Informelle in eine offizielle Guideline zu fassen, der schüchterne Hinweis, es gäbe schon Anti-Korruptions-Gesetze. Und der Ratschlag ist eben auch treffend. Business und Privates wird nicht groß getrennt in Russland – wenn du dich mit Sergej nicht gut verstehst, dann machst du auch kein Geschäft mit ihm. Die erste Frage am Telefon gilt dem Wohlbefinden von Frau und Kindern – ich würde gerne gendern, aber ich glaube, dass wird dem vorherrschenden Business-Umfeld in Russland nicht gerecht. Man vergnügt sich gemeinsam bei der Jagd oder in der Sauna. Also: Ich bin da kein Experte, aber wer ein Business in Russland aufbauen will, muss auf jeden Fall russisch können, eine gute Gesellschaft und vor allem trinkfest sein.

Titelbild:
| Mariano Mantel /flickr.com (CC BY-NC 2.0)

Bilder im Text:
Kremlin.ru, CC-BY 4.0, Link

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| Mark Freeman / flickr.com (CC BY 2.0)

| Jürg Vollmer / Maiakinfo - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, Link

Redaktionelle Umsetzung: Alina Zimmermann

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