Eyal Weizman an der Zeppelin Universität

Die Konstruktion politischer Räume

Der Instinkt ist politisch und in einer Millisekunde steckt eine lange Geschichte der Kolonisation, Segregation und Diskrimination.

Eyal Weizman
Professor für Spatial and Visual Cultures und Direktor der Gruppe Forensic Architecture
 
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    Zur Person
    Eyal Weizman

    Eyal Weizman, geboren 1970 in Israel, ist ein israelischer Architekt und Schriftsteller. Weizman ist zudem als Direktor des Center for Research Architecture am Goldsmiths College der Universität London tätig. Er ist freier Redakteur und arbeitet unter anderem für das Cabinet-Magazin. Weizman steht in engem Kontakt mit Menschenrechtsorganisationen in Israel und Palästina. Für ihn ist israelische Architektur auf dem Gebiet der Palästinenser „in Material gegossene Politik“. Er setzt sich in seinen literarischen Werken kritisch mit der Architektenzunft auseinander. In seinem künstlerischen Schaffen scheint die Erinnerung an Jüdische Kultur in Deutschland auf. 

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Geschlagene 26 Stunden Reise hatte Eyal Weizman hinter sich, als er im Rahmen der vom Zeppelin Museum initiierten Fachtagung „Schöne Neue Welten“ ans Rednerpult des Graf-von-Soden-Forums im ZF Campus der ZU trat. Anzumerken war ihm das nicht – und was der Professor für Spatial and Visual Cultures charmanterweise dem erholsam schönen letzten Streckenabschnitt entlang des Bodensees zuschreibt, ist wohl auch einer gewissen Reiseerprobtheit geschuldet.


Seit 2011 gibt es „Forensic Architecture“ und seither agiert die Projektgruppe in Kooperation mit Organisationen wie „Amnesty International“ und „Human Rights Watch“ weltweit. Auf der Architekturbiennale in Venedig präsentierte sie 2016 ihre Erkenntnisse zum amerikanischen Drohnenprogramm in Pakistan, anlässlich der documenta 14 rollte sie im vergangenen Jahr den NSU-Mord an Halit Yozgat neu auf. Auch in Friedrichshafen ist „Forensic Architecture“ momentan gleich zweimal vertreten: in der aktuellen Einzelausstellung in der Universitätsgalerie White Box sowie in der Ausstellung zu virtuellen Realitäten im Zeppelin Museum, die dieser Tage zu Ende geht. In politisch turbulenten Zeiten, in denen die Forderungen nach politisch korrekter und wirksamer Kunst fortwährend lauter werden, ist „Forensic Architecture“ gefragt – schließlich handelt es sich hierbei um eines der wenigen Kollektive, die als glaubwürdige Advokaten für marginalisierte Gruppen eintreten und dabei tatsächlich etwas erreichen.

Das Kollektiv „Forensic Architecture“ rund um Eyal Weizman ist durch Arbeiten bekannt geworden, die auf Basis öffentlich zugänglicher Daten und selbst ermittelter Informationen Tathergänge von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen nachvollziehen. So erstellen sie Gegendarstellungen zu offiziellen Medienberichten. Das Kollektiv nutzt dazu Simulationsmethoden, die auch bei architektonischen Planungen zum Einsatz kommen und kombiniert sie etwa mit Soundanalysen, Archivmaterial oder Zeugenaussagen. So bilden sie Gebäude oder Gefängnisse nach und verifizieren widersprüchliche Aussagen. Laut Weizman befindet sich die Gruppe damit zwischen künstlerischer Forschung, Aktivismus und politischem Journalismus.
Das Kollektiv „Forensic Architecture“ rund um Eyal Weizman ist durch Arbeiten bekannt geworden, die auf Basis öffentlich zugänglicher Daten und selbst ermittelter Informationen Tathergänge von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen nachvollziehen. So erstellen sie Gegendarstellungen zu offiziellen Medienberichten. Das Kollektiv nutzt dazu Simulationsmethoden, die auch bei architektonischen Planungen zum Einsatz kommen und kombiniert sie etwa mit Soundanalysen, Archivmaterial oder Zeugenaussagen. So bilden sie Gebäude oder Gefängnisse nach und verifizieren widersprüchliche Aussagen. Laut Weizman befindet sich die Gruppe damit zwischen künstlerischer Forschung, Aktivismus und politischem Journalismus.

Die Frage, was an dieser Praxis aber nun künstlerisch oder architektonisch ist, bleibt zunächst noch unbeantwortet. Stattdessen beginnt der in Israel geborene Autor mehrerer Bücher über den Schnittpunkt von Architektur und Menschenrechtsverletzungen seinen Vortrag mit einem Exkurs in die Geschichte und Theorie der Forensik. Forensik, das sei im Prinzip die Kunst der Polizei, die sich auf drei Operationsräume verteile: das Feld, in dem das Verbrechen begangen wird und Spuren hinterlassen werden, das Land, in dem Wissenschaft und Analyse stattfinden, und das Forum, auf dem Beweise mobilisiert, theatralisch präsentiert und in Bilder, Gesten und Rhetorik umgewandelt werden: „Im Feld kann der Staat um einiges mehr sehen als der angebliche Verbrecher – er verschafft sich ein Monopol über diesen Raum, das zeigen unter anderem die Absperrbänder, durch die Tatorte für die Öffentlichkeit unzugänglich gemacht werden.“


Was in einem wohlwollenden, liberalen Staat durchaus sinnvoll sei, werde dann problematisch, wenn der Staat selber der Verbrecher sei – denn dann werde es für Außenstehende sehr schwierig, Beweise zu sammeln. Die Lösung von „Forensic Architecture“? „Counterforensics – also nicht einfach die Epistemologie und die Techniken der Staatsmacht übernehmen, sondern alternative Methoden finden und verschiedene ästhetische Mittel der Wahrheitsproduktion in den Prozess einbringen.“

Wie genau das Kollektiv bei jenen konterforensischen Untersuchungen vorgeht, erläutert Weizman anschließend Schritt für Schritt und mithilfe zahlreicher visuell beeindruckender Animationen und Videos. Der Architekt und Aktivist schildert einen Vorfall bei einer Polizeirazzia in einem von der israelischen Regierung als illegal deklarierten Beduinendorf im Norden des Landes – solche Angriffe, so Weizman, dienen dem Regime zur Aneignung neuer Territorien. Jene Attacke, die am 18. Januar vergangenen Jahres stattfand, forderte zwei Tote: den Polizisten Erez Levi, der von einem weißen Geländewagen erfasst wurde, und Yaqub Musa Abu al-Qi’an, den beduinischen Fahrer des Wagens.


Die israelische Regierung machte Ayman Odeh, den Führer der israelischen kommunistischen Partei, der sich während des Vorfalls vor Ort befand und selbst durch ein Gummigeschoss im Gesicht verletzt worden war, indirekt für den Vorfall verantwortlich: „Das Blut klebt an Odehs Händen“, übersetzt Weizman ein Zitat aus einer israelischen Tageszeitung. Und auch für die israelische Polizei war die Situation eindeutig: der Fahrer ein Islamist mit direkter Verbindung zur israelischen kommunistischen Partei, die Kollision der Polizistengruppe mit dem Fahrzeug ein terroristischer Akt und der bedauerliche Tod des Kollegen ein Mord, der laut Staatspräsident Benjamin Netanjahu durch die weitere Zerstörung beduinischen Wohnraums gerächt werden müsse. Wenige Tage später veröffentlichten die Behörden ein aus einem Polizeihelikopter aufgenommenes Infrarotvideo, das diese Sichtweise augenscheinlich bestätigte: Es zeigt, wie der weiße Truck offenbar mit ausgeschalteten Scheinwerfern direkt auf den Polizisten zufährt und dabei an Geschwindigkeit zunimmt.

Israel kommt politisch nicht zur Ruhe – und dabei spielen auch Videos immer wieder eine Rolle. Aktuell diskutiert das Land infolge der Massendemos am Gazastreifen über ein Video: Darin zielt ein Scharfschütze auf einen offenbar unbewaffneten Mann – und bejubelt den Treffer. Seit zwei Wochen kommt es immer wieder zu gewaltsamen Demonstrationen am Gazastreifen. Die israelische Armee tötete bislang 32 Palästinenser und verletzte mehr als 2.800, die meisten davon durch Tränengas. Nun sorgt ein Video für Aufsehen, das den Schuss eines israelischen Scharfschützen auf einen Palästinenser an der Grenze zum Gazastreifen zeigen soll. In dem kurzen Film ist zu sehen, wie ein Soldat auf einen offenbar unbewaffneten Mann zielt und schießt. Der Mensch fällt zu Boden und Kameraden des israelischen Schützen reagieren mit Freudenschreien. „Dieser Hurensohn“, ruft einer von ihnen auf Hebräisch. Es ist unklar, ob die Aufnahmen während der jüngsten Massenproteste an der Gazagrenze aufgenommen wurden. Auch was mit dem Palästinenser geschah, ist unklar.
Israel kommt politisch nicht zur Ruhe – und dabei spielen auch Videos immer wieder eine Rolle. Aktuell diskutiert das Land infolge der Massendemos am Gazastreifen über ein Video: Darin zielt ein Scharfschütze auf einen offenbar unbewaffneten Mann – und bejubelt den Treffer. Seit zwei Wochen kommt es immer wieder zu gewaltsamen Demonstrationen am Gazastreifen. Die israelische Armee tötete bislang 32 Palästinenser und verletzte mehr als 2.800, die meisten davon durch Tränengas. Nun sorgt ein Video für Aufsehen, das den Schuss eines israelischen Scharfschützen auf einen Palästinenser an der Grenze zum Gazastreifen zeigen soll. In dem kurzen Film ist zu sehen, wie ein Soldat auf einen offenbar unbewaffneten Mann zielt und schießt. Der Mensch fällt zu Boden und Kameraden des israelischen Schützen reagieren mit Freudenschreien. „Dieser Hurensohn“, ruft einer von ihnen auf Hebräisch. Es ist unklar, ob die Aufnahmen während der jüngsten Massenproteste an der Gazagrenze aufgenommen wurden. Auch was mit dem Palästinenser geschah, ist unklar.

„Forensic Architecture“ und die fotografische Aktivistengruppe „ActiveStills“ machten es sich zur gemeinsamen Aufgabe, jenes tonlose Schwarzweißvideo durch andere Beweismaterialien zu ergänzen und zu hinterfragen. Hierzu wurde zunächst jegliches Bild- und Tonmaterial von den Bürgern und Aktivisten gesammelt, die in den frühen Morgenstunden Zeugen der Razzia geworden waren. „Mithilfe der Aufnahmen konnten wir einen genauen Zeitablauf der Ereignisse erstellen – und das Polizeivideo mit bestehenden Aufnahmen synchronisieren, die beweisen, dass zunächst auf den Geländewagen geschossen wurde und dieser erst daraufhin beschleunigte“, erläutert Weizman.


Wenige Tage später brachte der Autopsiebericht Abu al-Qi’ans neue Erkenntnisse: Der Fahrer war von zwei Kugeln verwundet worden, eine traf sein rechtes Knie, die andere seinen Brustkorb. Dass jene erste Kugel das Bein verwundete, mit dem der Fahrer das Gaspedal bedient hatte, schien ein Szenario zu bestätigen, das „Forensic Architecture“ und „ActiveStills“ vorab skizziert hatten. Es besagte, dass Abu al-Qi’an als direkte Konsequenz der Schüsse die Kontrolle über seinen Wagen verloren hatte und so in die Polizistengruppe hineingefahren war. Um jene These zu bestätigen, fertigte „Forensic Architecture“ ein 3D-Modell der Umgebung an, die der Wagen befahren hatte – und siehe da: Die Landschaft, die auf dem Polizeivideo so flach wirkte, schien tatsächlich hügelig genug zu sein, um die Beschleunigung des Fahrzeuges allein durch die Steigung des Geländes erklären zu können. Weizman spielt die Animation, die mit einer roten Linie die Fahrt des außer Kontrolle geratenen Fahrzeuges nachzeichnet, und das Polizeivideo nebeneinander ab und auf einmal rollt der Geländewagen in beiden Videos synchron einen Hügel hinab.

Doch nicht die „bearbeiteten Videos“, wie der israelische Sicherheitsminister Gilas Erdan sie abschätzig nannte, brachten schließlich die entscheidende Wendung im Fall. Bei der Analyse hunderter Videos hatten die Aktivisten einen Beitrag des Nachrichtensenders Al Jazeera gefunden, in dessen Hintergrund für einen kurzen Moment der Toyota vorbeirollt – mit eingeschalteten Scheinwerfern. Einige Monate später bestätigte dann eine Nachstellung am Tatort das computeranimierte Modell der forensischen Architekten: Der Wagen rollte ohne Betätigung des Gaspedals ab dem Punkt, an dem die Schüsse den Fahrer getroffen hatten, tatsächlich von selbst in ähnlicher Geschwindigkeit wie in dem Polizeivideo den Hang hinab.


Zudem klärte sich hier das letzte Rätsel des Falls: die Umstände, unter denen der zweite, tödliche Schuss Abu al-Qi’an traf. Auf dem Polizeivideo ist zu sehen, dass die Fahrertür des Wagens geöffnet wurde, nachdem der Toyota zum Stillstand kam. Beim Nachstellen des Unfalls fiel dann auf, dass sich die Türen, nachdem jenes Automodell eine Geschwindigkeit von 20 km/h erreicht, automatisch verriegeln und fortan nur noch aus dem Fahrzeuginneren geöffnet werden können. Abu al-Qi’an musste die Türe also auf die Aufforderung der Polizisten hin selbst geöffnet haben – und dann trotz Befolgung der Anweisungen erschossen worden sein. „Das war meiner Meinung nach keiner dieser Momente, in denen Polizisten in Sekundenbruchteilen instinktiv handeln müssen“, versichert Weizman. „Ohnehin ist dieses Argument der instinktiven Selbstverteidigung, bei der keine Zeit für moralische Abwägungen bleibt, häufig ein Versuch, Polizeigewalt zu depolitisieren – man denke nur an die Argumentation im Fall Rodney King, der die Unruhen in Los Angeles 1992 auslöste. Der Instinkt ist politisch und in einer Millisekunde steckt eine lange Geschichte der Kolonisation, Segregation und Diskrimination.“


In der an den Vortrag anschließenden Podiumsdiskussion mit ZU-Professorin Karen van den Berg, Marius Specht, Vorsitzender des Club of International Politics, und Verena Konrath, Direktorin des vai Vorarlberger Architektur Instituts, wird nun endlich auch die Frage nach der Kunst beantwortet. Frau Konrath, ist das, was „Forensic Architecture“ macht, architektonisch? „Natürlich. Es geht stets darum, Bilder zu lesen und zu verstehen, und architektonische Praxis bedeutet nicht bloß, etwas zu bauen, sondern auch ein Verständnis für Raum zu entwickeln.“ „Forensic Architecture“, pflichtet Weizman bei, ist ein Kind unserer stark visuell geprägten Kultur – nicht nur, weil ein Großteil seiner Arbeit auf die Bildfluten zurückgreift, die wir mittlerweile täglich produzieren, sondern auch, weil es dreidimensionale Bilder produziert und damit neue, zeitgemäße Foren schafft. Das ist im Prinzip nichts anderes als das Erschaffen von Räumen – bloß unter erschwerten Bedingungen. „Du platzierst deine Arbeit in dem antagonistischsten aller Umfelder – deine architektonische Struktur muss einem Erdbeben standhalten können.“

Titelbild: 

| Valentin Kremer / Zeppelin Universität


Bilder im Text: 

| Nico Stockmann / Zeppelin Universität

| Walkerssk / Pixabay.com (CC0 Public Domain) | Link


Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm

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