Bildungspolitik

Ein Härtetest für die Schule

Die voll digitalisierte Schule ist die bestmögliche technische Ausstattung für die Durchsetzung eines Kontrollregimes. Bis zu einem umfassenden Überwachungssystem mit einer entsprechenden Sprachkontrolle und einem Wahrheitsministerium, wie es von George Orwell in seinem dystopischen Roman ,1984‘ beschrieben wurde und in China installiert wird, ist es dann auch nicht mehr weit.

Prof. Dr. Richard Münch
Seniorprofessur für Gesellschaftstheorie und komparative Makrosoziologie
 
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    Zur Person
    Prof. Dr. Richard Münch

    Richard Münch, Jahrgang 1945, studierte von 1965 bis 1970 Soziologie, Philosophie und Psychologie an der Universität Heidelberg und erwarb dort 1969 den Grad des Magister Artium und 1971 den Grad des Dr. phil. Die Habilitation für das Fachgebiet Soziologie erfolgte 1972 an der Universität Augsburg, wo er von 1970 bis 1974 am Lehrstuhl für Soziologie und Kommunikationswissenschaft als wissenschaftlicher Assistent beschäftigt war. Von 1974 bis 1976 lehrte er als Professor für Soziologie an der Universität zu Köln, von 1976 bis 1995 an der Universität Düsseldorf, von 1995 bis 2013 an der Universität Bamberg, wo er 2013 zum Emeritus of Excellence ernannt wurde.

    Seit 2015 ist er Seniorprofessor für Gesellschaftstheorie und komparative Makrosoziologie an der Zeppelin Universität. Er war mehrfach als Gastprofessor an der University of California in Los Angeles tätig und gehörte zur Herausgeberschaft des American Journal of Sociology, der Annual Review of Social Theory, von Sociological Theory, Zeitschrift für Soziologie und Soziologische Revue. Von 2002 bis 2012 war er Sprecher des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten interdisziplinären Graduiertenkollegs „Märkte und Sozialräume in Europa“ an der Universität Bamberg. Er war Mitglied und zuletzt Vorsitzender des Fachbeirats am Max Planck Institut für Gesellschaftsforschung in Köln und ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. 

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    Factbox
    Zum Weiterlesen: Der bildungsindustrielle Komplex

    „Bildung“ ist das Mantra der „Wissensgesellschaft“ unserer Gegenwart. Durch bessere Bildung sollen die großen Probleme unserer Zeit gelöst werden. Die Schule soll alle aus wachsender Heterogenität folgenden Verwerfungen, Ungleichheiten und Konflikte der Gesellschaft auflösen. Das ist die zentrale Agenda der Ablösung des Wohlfahrtsstaates durch den Wettbewerbsstaat. Richard Münch unterzieht diese Reformagenda einer kritischen Analyse mit Fokus auf der Pionierrolle der USA. Im Mittelpunkt steht dabei die Ablösung des pädagogischen Establishments in den Schaltzentralen der Kultusbürokratie durch einen bildungsindustriellen Komplex, in dem internationale Organisationen, Think Tanks, Beratungsunternehmen, missionarische Milliardärsstiftungen, Bildungsreformer und Bildungsforscher mit der Bildungs- und Testindustrie zusammenwirken, um den schulischen Bildungsprozess einer minutiösen externen Kontrolle zu unterwerfen.

    Richard Münch: „Der bildungsindustrielle Komplex – Schule und Unterricht im Wettbewerbsstaat“, Verlagsgruppe Beltz, Weinheim, 392 Seiten, ISBN-10: 3779939509, ISBN-13: 978-3779939504 

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Was ist Ihr Verständnis von Bildung?

Prof. Dr. Richard Münch: Meine soziologische Untersuchung zur Regierung von Bildung, Schule und Unterricht im globalen Wettbewerb um Rangplätze in Bildungsvergleichsstudien – wie die von der OECD durchgeführte PISA-Studie – setzt keine normative Idee von guter Bildung voraus. Es geht allein um die sachlichen Fragen, welche Art von Bildung durch einen solchen Wettbewerb prämiert wird, worin sich diese von nationalen Traditionen von Bildung, Schule und Unterricht unterscheidet und welche Konsequenzen deren Realisierung für die Gesellschaft hat. Fakt ist, dass PISA allein Basiskompetenzen misst, die definitiv als kulturunabhängig verstanden werden. Damit einher geht eine Fokussierung auf Kompetenzen statt Wissen, das heißt auf allgemeine testbare Fähigkeiten – es handelt sich also um nicht mehr als einen Intelligenztest.


PISA betont nur eine Seite der in der deutschen Bildungstradition besonders tief verwurzelten Spannung zwischen dem klassischen Bildungsverständnis des zu Beginn des 19. Jahrhunderts geborenen Neuhumanismus und der im Verlauf der weiteren Entwicklung immer stärker gewordenen Gegenposition des Realismus im Sinne einer auf Brauchbarkeit zielenden schulischen Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt.


PISA löst das Spannungsverhältnis zwischen dem Bildungsidealismus und dem Bildungsrealismus zugunsten des Bildungsrealismus auf. Das geschieht hinter dem Rücken der Bürger allein durch die Durchführung des Wettbewerbs und die Orientierung der Bildungspolitik an seinen Ergebnissen, ohne dass darüber eine öffentliche Debatte geführt und eine demokratische Entscheidung getroffen worden wäre. In einer solchen Debatte könnte insbesondere die Frage diskutiert werden, ob eine Einschränkung von Bildung auf wenige elementare und kulturunabhängige Kompetenzen gewünscht ist und welche Folgen der Verzicht auf ein weiteres Verständnis von Bildung hat. Das betrifft insbesondere die Fähigkeit der Bürger zu einer reflektierten Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur, mit fremden Kulturen und der Frage, wohin sich die Gesellschaft entwickeln soll.


An dieser Stelle verstehe ich meine soziologische Analyse als einen kognitiv aufklärenden Beitrag zu einer normativen Debatte. Man kann also auch ohne ein vorab bestimmtes normatives Leitbild von Bildung einen substantiellen Beitrag zu einer normativen Debatte über unser Verständnis von Bildung leisten, um hier auf die Eingangsfrage zurückzukommen.

Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU, 2. v. l.) hatte kein leichtes Jahr 2018 – und bewegte sich auffällig oft abseits ihrer Ressortthemen. Zuletzt geriet sie wegen ihrer Äußerungen zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und zum 5G-Netzausbau in die Kritik. Eine ihrer wesentlichen Verdienste hingegen waren Fortschritte im Streit um die Digitalisierung an Schulen. Um die voranzutreiben, will der Bund in den kommenden fünf Jahren fünf Milliarden Euro investieren.
Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU, 2. v. l.) hatte kein leichtes Jahr 2018 – und bewegte sich auffällig oft abseits ihrer Ressortthemen. Zuletzt geriet sie wegen ihrer Äußerungen zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und zum 5G-Netzausbau in die Kritik. Eine ihrer wesentlichen Verdienste hingegen waren Fortschritte im Streit um die Digitalisierung an Schulen. Um die voranzutreiben, will der Bund in den kommenden fünf Jahren fünf Milliarden Euro investieren.

Welche Erwartungen müssen Schulen heutzutage erfüllen?


Münch: Die schulische Bildung ist immer schon Erwartungen unterworfen, die in einem grundsätzlichen Spannungsverhältnis zueinander stehen. Ein Gegensatz besteht etwa zwischen dem Bildungsprozess um seiner selbst willen und der Selektion für berufliche Positionen nach schulischen Leistungsdifferenzen. Je mehr der Leistungswettbewerb betont wird, umso mehr wird dadurch die für den Bildungsprozess unabdingbare Seite des kooperativen Lernens im Unterricht beeinträchtigt. Ferner herrscht ein Gegensatz zwischen den beiden von außen an die schulische Bildung herangetragenen Erwartungen der Selektion und Inklusion. Zu weitreichende Inklusion verwischt Leistungsdifferenzen, wodurch die Schule nur eingeschränkt die Selektionsfunktion für das Berufssystem erfüllen kann. Eine zu starke Fokussierung auf Selektion schließt viele Heranwachsende aus dem weiterführenden Bildungsprozess aus und versperrt ihnen den Zugang zur Teilhabe an der Gesellschaft.


Die schulische Bildung muss diese gegensätzlichen Erwartungen immer wieder neu austarieren. In der Gegenwart machen sich diese und weitere Gegensätze besonders krass bemerkbar. Denn die Gesellschaft wird durch Zuwanderung heterogener, die von der Familie in die Schule mitgebrachten Fähigkeiten und Motivationen werden ungleicher, und der internationale wirtschaftliche Wettbewerb wird härter. Die immer schon vorhandenen gegensätzlichen Erwartungen an die schulische Bildung werden so ins Extreme gesteigert, sodass die Schule an diesen Erwartungen nur scheitern kann.

Wie ist es überhaupt dazu gekommen, Schulen als Wirtschaftsfaktor und zugleich als Reparaturbetrieb für eine zerrissene Gesellschaft zu instrumentalisieren?

Münch: Die Globalisierung hat den Wettbewerbsdruck auf die nationalen Ökonomien massiv gesteigert. Von dem dadurch forcierten Welthandel und der internationalen Arbeitsteilung haben die aufsteigenden Schwellenländer insbesondere in Ostasien erheblich profitiert. In den ärmsten Entwicklungsländern in Afrika und Südasien ist dieser globale wirtschaftliche Aufschwung jedoch ausgeblieben. In den hochentwickelten westlichen Industrieländern ist er sehr ungleich angekommen, zwischen den Ländern und innerhalb der Länder: Während sich die Gewinner der Globalisierung nicht mehr an die nationalstaatlich begrenzte Solidarität des alten Wohlfahrtsstaates fesseln lassen, geraten die für den globalen Wettbewerb weniger gerüsteten Schichten in einen durch Arbeitsplatzverlagerung in Billiglohnländer und Zuwanderung verschärften Wettbewerb um Arbeitsplätze und wohlfahrtsstaatliche Sicherheit.

In dieser höchst explosiven Situation, die uns noch lange in Atem halten wird, soll es die Schule richten. Sie soll alle Heranwachsenden durch bestmögliche Bildung in die Gesellschaft inkludieren und für den globalen Wettbewerb rüsten. Die aktuellste Erscheinungsform davon ist in Deutschland der angestrebte, momentan ins Stocken geratene Digitalpakt von Bund und Ländern. Die Probleme einer von den genannten Gegensätzen zerrissenen und mit weit überzogenen Erwartungen konfrontierten Schule wird jedoch ihre bessere digitale Ausstattung nicht beseitigen. Grundsätzliche gesellschaftliche Gegensätze und Konflikte lösen sich durch bloße technische Aufrüstung nicht in Luft auf.


Wie hat sich demnach der Wandel vom Wohlfahrtsstaat zum Wettbewerbsstaat vollzogen?


Münch: Dem Wohlfahrtsstaat wird im globalen ökonomischen Wettbewerb der für seine Fortexistenz unabdingbare Boden einer national geschlossenen Solidarität entzogen. Die Gewinner der Globalisierung knüpfen grenzüberschreitende Netzwerke, in denen neue Solidaritäten entstehen. Die Verlierer der Globalisierung klammern sich dagegen an einen wirtschaftlich schwächer werdenden Nationalstaat, dem für Umverteilung engere Grenzen als zuvor gesetzt sind. Sie sehen sich demgemäß fundamental enttäuscht und entwickeln eine zunehmende „Wut“ auf die Regierenden. 


Der geschwächte Wohlfahrtsstaat wird in dem Sinne durch einen Wettbewerbsstaat abgelöst, dass an die Stelle des Ausgleichs von ungleichem Erfolg auf dem Arbeitsmarkt die Förderung von Chancengleichheit im Bildungsprozess und die entsprechende Befähigung von allen zum Erfolg auf dem Arbeitsmarkt tritt. Und genau das soll die Schule nach dem parteienübergreifenden Leitspruch „Bildungspolitik ist die beste Sozialpolitik“ leisten. Die Folge ist eine Bildungsinflation: In den vergangenen dreißig Jahren ist dementsprechend in allen Ländern der Anteil von Hochschulabsolventen an einer Alterskohorte weiter gewachsen, parallel dazu aber auch die Ungleichheit der Haushaltseinkommen. Alle Bildungsoffensiven haben diesen Effekt. Als ein Äquivalent für sozialen Ausgleich im Sinne des alten Wohlfahrtsstaates können sie deshalb nicht gelten.

Weg mit den Büchern, her mit den Tablets – so könnte das Motto des DigitalPakts Schule lauten, der in deutsche Klassenzimmer endlich frischen Wind bringen soll. Doch das Vorhaben des Bundes ist vorerst ausgerechnet an den Bundesländern selbst gescheitert. Um sich finanziell in die bildungspolitische Landeshoheit einzumischen, hätte das im Grundgesetz verankerte Kooperationsverbot gelockert werden müssen. Doch die Ministerpräsidenten der 16 Länder haben sich dagegen entschieden. Nun soll sich ein Vermittlungsausschuss mit der vom Bundestag bereits abgesegneten Grundgesetzänderung befassen – bis dahin ruht das Vorhaben.
Weg mit den Büchern, her mit den Tablets – so könnte das Motto des DigitalPakts Schule lauten, der in deutsche Klassenzimmer endlich frischen Wind bringen soll. Doch das Vorhaben des Bundes ist vorerst ausgerechnet an den Bundesländern selbst gescheitert. Um sich finanziell in die bildungspolitische Landeshoheit einzumischen, hätte das im Grundgesetz verankerte Kooperationsverbot gelockert werden müssen. Doch die Ministerpräsidenten der 16 Länder haben sich dagegen entschieden. Nun soll sich ein Vermittlungsausschuss mit der vom Bundestag bereits abgesegneten Grundgesetzänderung befassen – bis dahin ruht das Vorhaben.

Sie sprechen in Ihrem Buch vom bildungsindustriellen Komplex: Was meinen Sie damit?

Münch: Ich meine damit das Netzwerk von Bildungskonzernen, Testunternehmen, Think Tanks, missionarischen philanthropischen Stiftungen, Beratungsunternehmen, NGOs, staatlichen und halbstaatlichen Organisationen, Bildungsreformern und Bildungsforschern, die auf globaler und nationaler Ebene – zentriert um die OECD und das PISA-Konsortium – die schulische Bildung als ein ungemein profitables Geschäftsfeld entdeckt haben. McKinsey schätzt das Volumen dieses globalen Marktes für 2020 auf 8 Billionen US-Dollar.


Allein schon die Durchführung des Tests alle drei Jahre ist ein gutes Geschäft, weil das die fortlaufende Beschäftigung der involvierten Mitarbeiter sichert, obwohl die Ergebnisse über die Jahre äußerst konstant sind und der Einfluss der Bildungspolitiken auf die Ergebnisse ohnehin nicht messbar ist, sodass der Test auch in weit größeren Abständen durchgeführt werden könnte. Die Testergebnisse werden systematisch von Beratungsunternehmen, allen voran McKinsey, genutzt, um Programme der Bildungsreform für Regierungen und Schuladministrationen zu schneidern. Sie versprechen den Regierenden und Administratoren stets „rasche und dramatische“ Leistungssteigerungen, die sich anhand der Daten messen ließen. In aller Regel werden die Versprechungen aber nicht erfüllt, oder anfängliche Erfolge erweisen sich nicht als nachhaltig.

 
Inwieweit befindet sich die Schule und der Unterricht im Zugriff des bildungsindustriellen Komplexes und welche Rolle spielen dabei Bildungsvergleichsstudien wie die PISA-Studie der OECD?

Münch: Strategisches Handeln setzt die Akteure des bildungsindustriellen Komplexes im Bildungsfeld fest und sichert ihren Einfluss auf Reformprogramme – so schleusen etwa Pipelines Manager aus der Privatwirtschaft in Schulleitungen und Schuladministrationen ein. Hebelprojekte sind lokale Reformmaßnahmen, die bundesweit beachtet und nachgeahmt werden. Mediale Präsenz sichert Aufmerksamkeit für Reformagenden. Kern dieser Reformagenden ist das Monitoring von Schule und Unterricht mittels Daten. PISA liefert die Daten für die Steuerung der nationalen Bildungssysteme und dient als Modell für nationale Tests.


Das hängt mit der weltweiten Durchsetzung von New Public Management (NPM) seit den 1980er-Jahren zusammen. Die ökonomische Public-Choice-Theorie hat schon in den 1970er-Jahren alle öffentlichen Einrichtungen unter den Generalverdacht gestellt, dass sie von Bürokraten beherrscht werden, die nur ihr eigenes Interesse verfolgen, statt ihren Klienten zu dienen. Dazu wurden auch Organisationen wie Schulen und Universitäten gerechnet, die mehr nach einer Logik der professionellen Treuhänderschaft funktionieren und weniger nach einer bürokratischen Logik. Professionelle Kompetenzen gründen in hohem Maße in einer spezifischen Berufsethik und in Erfahrungswissen, das sich nicht in allgemein verfügbare Technologien transformieren und in Kennziffern messen lässt. Genau das ist aber die Arbeitsweise von NPM. Schule und Unterricht werden deshalb einem datengetriebenen Monitoring unterworfen, das die Grundlagen einer sachgerechten professionellen Arbeit zerstört. Den Lehrern wird grundsätzlich das Vertrauen entzogen, ohne das sie keine Respektsperson sein können, die sie jedoch sein müssen, um gut und erfolgreich unterrichten zu können.

Warum geben hier die Vereinigten Staaten ein ernüchterndes Paradebeispiel ab?

Münch: In den Vereinigten Staaten ist die Schule von der Tradition her eine lokale Angelegenheit, wobei allerdings im Laufe der Zeit die einzelstaatliche Kontrolle und die bundesstaatliche Aufsicht über die Schulen verstärkt ausgebaut wurden. Damit ging der zunehmende Einsatz von Tests als Instrument der Steuerung einher. Die private Testindustrie ist infolgedessen ein maßgeblicher Akteur im Bildungssystem geworden. Der Bund hat 1969 einen regelmäßig alle zwei Jahre durchgeführten repräsentativen Test eingerichtet. Die Einzelstaaten testen alle Jahrgangsstufen in allen Schulen jedes Jahr und machen die Bezahlung und Weiterbeschäftigung von Schulleitern und Lehrern sowie die Fortführung oder Schließung der Schulen von den jährlichen, in den Tests gemessenen Lernfortschritten ihrer Schüler abhängig.


In den Armutszonen der Innenstädte hat das zu einem ständigen Schließen „gescheiterter“ Schulen und Öffnen neuer Schulen geführt, die bei erneutem Scheitern wieder geschlossen werden. Lehrer werden zum Teil massenhaft entlassen, wenn McKinsey oder andere Beratungsunternehmen das Zepter in die Hand nehmen. Traditionelle öffentliche Schulen werden dabei mehr und mehr durch privat gemanagte, aber öffentlich pro Schüler mit jährlich etwa 10.000 US-Dollar finanzierte Charter Schools ersetzt, die größere Freiheiten haben.


Die in diesem Reformbetrieb stetig vermehrten Tests haben die Testindustrie zu großer Blüte gebracht, die auf die Tests bezogenen Lehrmaterialien die Lehrmittelindustrie. Die Ausbreitung der Charter Schools hat große Schulketten entstehen lassen. Beratungsunternehmen sind umfangreich im Geschäft der Bildungsreform tätig. Think Tanks verbreiten „Reformwissen“ zu „best practices“. Als große Sponsoren mit eigener Reformagenda wirken Bill und Melinda Gates mit ihrer Stiftung und unzählige weitere Stiftungen sowie auch einzelne Personen wie die Talk Show-Queen Oprah Winfrey.


Betrachtet man die Testergebnisse, dann wurde allerdings mit all diesen Reformmaßnahmen null und nichts erreicht. Weder wurden die durchschnittlichen Leistungen gesteigert, noch wurde die große Leistungskluft zwischen Reich und Arm auch nur im Geringsten verringert. Stattdessen wurde immens Täuschung und Betrug Vorschub geleistet, die zum Einsatz kommen, um die vollkommen utopischen Ziele wenigsten auf dem Papier zu erreichen, und zwar von den Lehrern auf der untersten Stufe bis ganz oben zur staatlichen Schuladministration.


Ist Widerstand möglich und was kann darüber hinaus getan werden, um dieser Entwicklung entgegenzutreten?

Münch: In den Vereinigten Staaten gibt es seit etwa zehn Jahren wachsende Kritik an diesem System und eine breiter werdende Opt-Out-Bewegung gegen das Testregime. Dieses Regime ist aber so tief in den Strukturen des Wettbewerbsstaates und der lange bestehenden Wettbewerbskultur des Landes verwurzelt, dass ich dort überhaupt keine realistischen Chancen für eine Änderung des Systems sehe.


In Deutschland sind wir noch nicht so weit vorangeschritten wie in den Vereinigten Staaten, dank des „pädagogischen Establishments“ in den Kultusbürokratien der Länder und dank der Lehrerverbände. Wir befinden uns aber – wie auch in anderen Funktionsbereichen der Gesellschaft – auf dem besten Weg dorthin. Deshalb möchte ich mit meiner Untersuchung zu den Vereinigten Staaten bei uns hier die Augen für die krassen Auswüchse des amerikanischen Testregimes öffnen, um innezuhalten, bevor es zu spät ist.

Um über die Wettbewerbsfähigkeit des US-Schulsystems zu diskutieren, muss man zunächst die Grundzüge verstehen: In den USA beginnen Kinder mit fünf oder sechs Jahren die Schule – die Elementary School, die sechs Jahre dauert. Danach folgt der Wechsel zur Middle oder Junior High School für weitere drei Jahre. Den Abschluss bildet die (Senior) High School, wo je nach Bundesstaat maximal bis zum 18. Lebensjahr verpflichtend gelernt werden muss. Die meisten Schüler in den USA besuchen staatliche Schulen. Diese werden über Steuergelder finanziert, sodass die Eltern kein Schulgeld zahlen müssen. Etwa 10 Prozent der US-Schüler besuchen private Schulen, für die jedoch eine jährliche Gebühr bezahlt werden muss. Außerdem gibt es in den USA die Option des Homeschooling, also des Unterrichts zu Hause. Für diese Möglichkeit entscheiden sich etwa ein bis zwei Prozent der US-amerikanischen Eltern.
Um über die Wettbewerbsfähigkeit des US-Schulsystems zu diskutieren, muss man zunächst die Grundzüge verstehen: In den USA beginnen Kinder mit fünf oder sechs Jahren die Schule – die Elementary School, die sechs Jahre dauert. Danach folgt der Wechsel zur Middle oder Junior High School für weitere drei Jahre. Den Abschluss bildet die (Senior) High School, wo je nach Bundesstaat maximal bis zum 18. Lebensjahr verpflichtend gelernt werden muss. Die meisten Schüler in den USA besuchen staatliche Schulen. Diese werden über Steuergelder finanziert, sodass die Eltern kein Schulgeld zahlen müssen. Etwa 10 Prozent der US-Schüler besuchen private Schulen, für die jedoch eine jährliche Gebühr bezahlt werden muss. Außerdem gibt es in den USA die Option des Homeschooling, also des Unterrichts zu Hause. Für diese Möglichkeit entscheiden sich etwa ein bis zwei Prozent der US-amerikanischen Eltern.

Was geschieht mit Bildung und was geschieht mit Schülern, wenn diese Entwicklung nicht aufgehalten wird?

Münch: „Bildung“ wird einem totalen Kontrollregime unterworfen. Die Schüler werden zu „Trivialmaschinen“, denen jegliche Kreativität, Reflexionsfähigkeit und Urteilskraft fehlt. „Trivialmaschine“ ist ein Begriff, den der Biophysiker Heinz von Foerster für Schüler geprägt hat, deren Lernen auf das Abrufen von Prüfungswissen fokussiert ist. Die voll digitalisierte Schule ist die bestmögliche technische Ausstattung für die Durchsetzung des Kontrollregimes, wie man gut in den USA beobachten kann. Bis zu einem umfassenden Überwachungssystem mit einer entsprechenden Sprachkontrolle und einem Wahrheitsministerium, wie es von George Orwell in seinem dystopischen Roman „1984“ beschrieben wurde und in China installiert wird, ist es dann auch nicht mehr weit.


Ist also Bildung inzwischen zu einem Produkt verkommen?

Münch: Unter der Herrschaft des totalen Kontrollregimes, auf das wir uns zielstrebig zubewegen, ist „Bildung“ nicht das, was wir uns im Sinne von Immanuel Kants klassischer Schrift „Was ist Aufklärung“ unter der Fähigkeit zum selbständigen Verstandesgebrauch vorstellen. Ein verwertbares Produkt ist sie nur so weit, wie Wirtschaft und Gesellschaft Trivialmaschinen gebrauchen können. Nach den üblichen öffentlichen Verlautbarungen zum „Lebenslangen Lernen“ soll das aber angeblich immer weniger der Fall sein. Da besteht eine große Diskrepanz zwischen Schein und Sein. Im Sinne meines Eingangsstatements verstehe ich das als reine Sachaussage. Ob wir das gut finden und so wollen, müssen wir im öffentlichen Diskurs klären. Bevor wir uns sang- und klanglos von wesentlichen Elementen der europäischen Aufklärung verabschieden, sollten wir wenigstens offen darüber diskutieren.

Zum Weiterlesen: Der bildungsindustrielle Komplex


Titelbild: 

| Element5 Digital / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Bilder im Text: 

J.-H. Janßen / Eigenes Werk (CC BY-SA 3.0) | Link

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| Marobl / Pixabay.com (CC0 Public Domain) | Link


Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm

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