„Ökonomien der Sichtbarkeit“

Wohin treibt uns die Bilderflut?

Es geht in der Ringvorlesung nicht darum, Kulturpessimismus zu verbreiten und angstvoll in eine bedrohliche Zukunft zu blicken, sondern besser zu verstehen, welche Rolle Bilder in der gegenwärtigen Gesellschaft spielen.

Prof. Dr. Karen van den Berg
Lehrstuhl für Kunsttheorie und Inszenatorische Praxis
 
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    Zur Person
    Prof. Dr. Karen van den Berg und Prof. Dr. Jan Söffner

    Professorin Dr. Karen van den Berg hat den Lehrstuhl für Kulturtheorie und inszenatorische Praxis an der Zeppelin Universität inne. Sie studierte Kunstwissenschaft, Klassische Archäologie und Nordische Philologie in Saarbrücken und Basel, wo sie auch promovierte. Von 1993 bis 2003 war sie Dozentin für Kunstwissenschaft am Studium fundamentale der Privaten Universität Witten/Herdecke. Seit 1988 realisiert sie als freie Ausstellungskuratorin zahlreiche Ausstellungsprojekte in öffentlichen Räumen und in Kunstinstitutionen – zuletzt mit den Ausstellungsreihen „Politics of Research“ und „Pari Mutuel“ im Flughafen Berlin Tempelhof. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Theorie des Inszenierens und Ausstellens; Kunst und Öffentlichkeit; Kunstvermittlung und Politik des Zeigens; Kunst und Emotionen (insbesondere Kitsch und Schmerz); Rollenmodelle künstlerischen Handelns; Altern und künstlerische Alterswerke; Soziale Effekte von Bildungsarchitekturen.

    Professor Dr. Jan Söffner, geboren 1971 in Bonn, studierte Deutsch und Italienisch auf Lehramt an der Universität zu Köln. Nach dem erfolgreichen Studienabschluss promovierte er am dortigen Romanischen Seminar mit einer Arbeit zu den Rahmenstrukturen von Boccaccios „Decamerone“. Die nächsten drei Jahre führten ihn als wissenschaftlichen Mitarbeiter an das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung nach Berlin. Zurückgekehrt an die Universität zu Köln, erfolgte neben einer weiteren wissenschaftlichen Tätigkeit am Internationalen Kolleg Morphomata die Habilitation. Jan Söffner übernahm anschließend die Vertretung des Lehrstuhls für Romanische Philologie und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen und leitete Deutsch- und Integrationskurse für Flüchtlinge und Migranten an den Euro-Schulen Leverkusen. Zuletzt arbeitete er erneut am Romanischen Seminar der Universität zu Köln und als Programmleiter und Lektor beim Wilhelm Fink Verlag in Paderborn. An der Zeppelin Universität lehrt und forscht Professor Dr. Jan Söffner zur Ästhetik der Verkörperung, zur Kulturgeschichte sowie zu Literatur- und Theaterwissenschaften.  

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Ihre Ringvorlesung geht der Frage nach, wie unsere Gegenwartskultur mit dem Überfluss an Bildern umgeht. Wie ist dieser Überfluss entstanden? Durch Internet und Fernsehen?

Prof. Dr. Karen van den Berg: Es gab natürlich verschiedene Medialisierungsschübe. Wenn wir aber heute von einem Überfluss an Bildern sprechen, meinen wir natürlich die exponentiell ansteigende Bildnutzung seit Einführung des iPhones beziehungsweise Smartphones 2007 und seit dem globalen Siegeszug des Web 2.0 und der omnipräsenten Nutzung von Social Media. Wenn auf Instagram täglich 95 Millionen Bilder hochgeladen werden, bedeutet das auch, dass Bilder vollkommen anders genutzt werden als dies noch vor 20 Jahren der Fall war; sie sind längst keine Medien mehr, die Gegenwart fixieren und den Erlebnisfluss anhalten. In seinem 2019 veröffentlichten Buch „Selfies“ nennt Wolfgang Ullrich die Art, wie wir Bilder heute nutzen, einen „mündlichen“ Bildgebrauch. Er tut dies auch, um den inflationären Bildgebrauch nicht zu skandalisieren. Ich finde seine Beobachtung daher sehr zutreffend. Gerade deshalb ist es ja so paradox, dass wir Bilder im täglichen Umgang einerseits so gebrauchen, als seien sie so vergänglich wie das gesprochene Wort, sie aber andererseits gespeichert werden und in den Echokammern des Webs auf unabsehbare Zeit abrufbar, rekontextualisierbar und manipulierbar bleiben.

Betrifft die aufdringliche Präsenz von Bildern wirklich nur das klassisch Visuelle oder etwa auch Architektur, Kleidung und Co. – also auch „Sichtbares“?

Prof. Dr. Jan Söffner: : All dies wird tatsächlich auf besondere neue Weise und in allen möglichen Kanälen sichtbar gemacht und vom Influencerbetrieb wird diese Sichtbarkeit auch in einer völlig neuen Radikalität genutzt. Es geht sogar um viel mehr als nur das. Wollte man Sichtbares auf bloß Visuelles reduzieren, dann entgingen uns die Metaphern, die zum Teil ebenso wichtig sind. Von der Forschung etwa verlangt man, dass sie „sichtbar“ sei – besondere Projekte und Orte nennt man „Leuchttürme“. Hans Blumenberg spricht hier von einer „absoluten Metapher“: Sichtbarkeit ist unerlässlich, will man über Ein-Sichten, das Licht der Wahrheit, die Aufklärung usw. sprechen. Auch Platons bis heute gebräuchlicher Begriff der Theorie ist im Wortstamm dem Theater, also der Schau-Bühne verwandt und bezeichnete zu seiner Zeit den Akt, wenn eine Gesandtschaft ein ansonsten verborgenes Heiligtum ansehen durfte. Diesen Begriff brachte er gegen die Sophisten in Anschlag, die seiner Ansicht nach (eine weitere Metapher der Sichtbarkeit) das Denken zu sehr auf den Markt gebracht hatten: Eine Antiökonomie der Sichtbarkeit sozusagen, die sich aber ihrerseits als nicht völlig unökonomisch erwiesen hat.

Vor allem das Smartphone ebnete der Macht der Bilder ihren Weg: 1,2 Billionen Fotos machte die Menschheit laut einer vom Digital-Branchenverband Bitkom veröffentlichten Prognose schon im Jahr 2017 – seitdem dürfte die Zahl noch einmal weiter gestiegen sein. Verantwortlich für diese Entwicklung ist die zunehmende Verbreitung von Smartphones. Sie sollen für 85 Prozent aller Fotos verantwortlich sein. Herkömmliche Digitalkameras kamen dagegen nur auf einen Marktanteil von 10,3 Prozent.
Vor allem das Smartphone ebnete der Macht der Bilder ihren Weg: 1,2 Billionen Fotos machte die Menschheit laut einer vom Digital-Branchenverband Bitkom veröffentlichten Prognose schon im Jahr 2017 – seitdem dürfte die Zahl noch einmal weiter gestiegen sein. Verantwortlich für diese Entwicklung ist die zunehmende Verbreitung von Smartphones. Sie sollen für 85 Prozent aller Fotos verantwortlich sein. Herkömmliche Digitalkameras kamen dagegen nur auf einen Marktanteil von 10,3 Prozent.

Der italienische Philosoph und Schriftsteller Franco Berardi spricht von einer „Überdosis an Sichtbarkeit“. Das klingt giftig, gefährlich. Ist das auch so?

van den Berg: Solange wir an Konzepten wie Privatsphäre, Selbstbestimmung und den damit verbundenen Persönlichkeitsrechten festhalten und diese für konstitutiv für unsere freiheitlich demokratische Gesellschaft halten, gibt es natürlich ein Zuviel an Sichtbarkeit. Um hier die gefährliche Seite zu erkennen, muss man noch nicht einmal dystopische Fantasien entwickeln. Künstliche Intelligenzen zur Gesichtserkennung und totalitäre Zugriffe auf den gläsernen Menschen sind ja in China längst Realität. Thomas Assheuer hat diese Entwicklung auf die Formel gebracht „»Freiheit« war das Versprechen der analogen liberalen Moderne, »Stabilität« ist die Verheißung der digitalen chinesischen Moderne“. Aber auch in den liberalen parlamentarischen Demokratien erzeugen wir durch die ubiquitäre Bildproduktion eine „Überdosis an Sichtbarkeit“ und unterwerfen uns freiwillig einem „Zwang zum Ausdruck“, wie Berardi es nennt.


Man muss sich daher bewusst machen, dass Bilder gerade in der Persönlichkeitswerdung junger Erwachsener eine immer wichtigere Rolle spielen. Mit der gegenwärtigen Instagramisierung der Gesellschaft entstehen neue Sozialisierungs- und Subjektivierungspraktiken, die das Verhältnis zwischen öffentlicher Präsenz und Privatsphäre neu bestimmen. Mit der Art, wie wir uns hier als Subjekte und Persönlichkeiten entwerfen und zeigen, werden unsere Persönlichkeitsentwürfe dabei aber zugleich ganz unmittelbar zur Handelsware – und zwar nicht zu irgendeiner Handelsware.


Vielmehr leben wir in einer Zeit, in der Social Media-Plattformen zu den einflussreichsten globalen Unternehmen aufgestiegen sind und eigene Währungssysteme entwickeln. Es sind neue entgrenzte Aufmerksamkeitsökonomien entstanden, die nicht nur schwer einzufangen sind, sondern die globalen Machtverhältnisse bestimmen und neuartige Verteilungskämpfe auslösen. Berardi sprach schon vor 15 Jahren davon, dass wir in einem Kapitalismus der Zeichen und Symbole leben, in dem soziale Beziehungen und Kommunikationsakte zu den wichtigsten Handelswaren aufgestiegen sind. Er nennt das „Semio-Kapitalismus“. Damit meint er, dass an die Stelle der Produktion von Gütern eine Zirkulation von Zeichen, Wissensströmen, Affekten und Bildern getreten ist und sich daraus auch neue Pathologien entwickeln. 

 
Im Anschluss an solche Überlegungen gilt es daher insbesondere im Umgang mit Bildern über neue Ermächtigungsstrategien nachzudenken – auch um die vielbeschworene Digitalisierung nicht wie ein Naturgesetz zu begreifen, sondern sie in ihrer Kontingenz offenzulegen. Dies geschieht am besten, indem wir auch in die Vergangenheit schauen und unseren eigenen Bildgebrauch mit historischen Bildpraktiken abgleichen.

Sie schreiben in der Ankündigung, die Macht von Bildern folge unberechenbaren Logiken. Warum und woran wird das deutlich?

van den Berg: Das klingt natürlich so, als müssten wir uns grundsätzlich vor der Macht der Bilder fürchten. Das ist natürlich nicht gemeint. Vielmehr wollen wir in unserer Vortragsreihe klären, wie mit Bildern Politik gemacht wird, wie Bilder sichtbar machen, aber auch verbergen. Die Rede von der Unberechenbarkeit bezieht sich hierbei darauf, dass wir recht wenig darüber wissen, wie die Logik der viralen Bildverbreitung funktioniert. Welche Rolle etwa spielte das Bild von der zierlichen blassen Schülerin Greta Thunberg vor dem schwedischen Parlamentsgebäude dabei, dass eine ganz neue politische Bewegung plötzlich Fahrt aufnahm? Wie unterscheidet sich die virale Bildverbreitung von einer Top-down-Propaganda-Bildpolitik? Wir glauben, dass die Erfolgsgeschichten von Bildern der Gegenwart sehr viel schwerer vorhersehbar sind als das in der Vergangenheit der Fall war.


Ist das überhaupt ein tagesaktuelles Phänomen? Auch früher haben Bilder schließlich schon Ehen getrennt und Kriege ausgelöst.

Söffner: Die Ringvorlesung ist ja auch nicht umsonst als historischer Überblick angelegt. Dennoch stellt uns die neue Entwicklung vor eine ganz andere Situation als noch die erste „Bilderflut“, von der man in meiner Kindheit sprach, als Fotos noch entwickelt werden mussten, Kameras mechanisch und klobig waren, die Kleinbildfilme gutes Geld kosteten – und die Reproduktion ein aufwendiges und im Vergleich zu heute steinzeitlich limitiertes Verfahren war. Das bringt eine ganz andere Form der Sichtbarkeit hervor – und vor allem eine ganz andere Ökonomie dieser Sichtbarkeit: Eine Ökonomie der Gratisangebote, in der Produzenten, Vertreiber und Konsumenten kaum voneinander geschieden werden können und zugleich eine Vermessung und Beobachtung durch Künstliche Intelligenzen möglich geworden ist. Auch das ist ein neues Phänomen: Sichtbarkeit war lange Zeit an lebendige Wahrnehmung gebunden – und musste, um ökonomisch wirksam zu werden, durch das Nadelöhr des menschlichen Bewusstseins. Das ist nicht mehr der Fall – Maschinen nutzen und ordnen Sichtbarkeit in viel größeren Mengen und viel größerer Geschwindigkeit, ohne dass es einen Menschen gibt, der etwas dafür „durchsehen“ muss.

Die vermutlich erste Fotografie der Welt „Blick aus dem Arbeitszimmer“ wurde im Frühherbst 1826 durch Joseph Nicéphore Niépce im Heliografie-Verfahren angefertigt. Ab 1840 entstanden weltweit dann auch die ersten Fotoateliers. Unter anderem von Alexander von Humboldt wurden noch in hohem Alter Fotografien aufgenommen. Bilder von Herrschern entstanden ebenso rasch, darunter von Abraham Lincoln, Otto von Bismarck und Kaiser Wilhelm I. – sie wurden in zahllosen Kopien in privaten Wohnungen gehalten, aber erst mit dem Aufkommen der Presse als Massenartikel ab den 1880ern verbreitet. Parallel entstanden dokumentarische Fotografien, etwa von Naturereignissen. Der erste deutsche Fotograf Hermann Biow fotografierte den Großbrand im Hamburger Alsterbezirk vom Mai 1842. Fotografien entstanden in allen nachfolgenden Kriegen, so im Krimkrieg (1853–1856) und im amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865). Der Kunstcharakter der Fotografie stand zu Beginn hinter ihrem dokumentarischen, technisch-objektivierenden Anspruch.
Die vermutlich erste Fotografie der Welt „Blick aus dem Arbeitszimmer“ wurde im Frühherbst 1826 durch Joseph Nicéphore Niépce im Heliografie-Verfahren angefertigt. Ab 1840 entstanden weltweit dann auch die ersten Fotoateliers. Unter anderem von Alexander von Humboldt wurden noch in hohem Alter Fotografien aufgenommen. Bilder von Herrschern entstanden ebenso rasch, darunter von Abraham Lincoln, Otto von Bismarck und Kaiser Wilhelm I. – sie wurden in zahllosen Kopien in privaten Wohnungen gehalten, aber erst mit dem Aufkommen der Presse als Massenartikel ab den 1880ern verbreitet. Parallel entstanden dokumentarische Fotografien, etwa von Naturereignissen. Der erste deutsche Fotograf Hermann Biow fotografierte den Großbrand im Hamburger Alsterbezirk vom Mai 1842. Fotografien entstanden in allen nachfolgenden Kriegen, so im Krimkrieg (1853–1856) und im amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865). Der Kunstcharakter der Fotografie stand zu Beginn hinter ihrem dokumentarischen, technisch-objektivierenden Anspruch.

Wie beeinflusst dieser Überfluss unsere Gesellschaft – etwa Kunst, Musik und das Kino? Müssen sie sich selbst mit visuellen Reizen überbieten, um noch sichtbar zu bleiben?

van den Berg: Zunächst einmal denke ich, dass die tägliche Bildproduktion und -rezeption auch neue Wissensformen hervorbringt und wir nicht einfach nur abstumpfen und alles immer spektakulärer werden muss. Es ist auch ein Qualitätsschub in der Massenbildproduktion zu beobachten: Die analogen Fotos, die wir in Familienalben des ausgehenden 20. Jahrhunderts vorfinden, können ästhetisch kaum mithalten mit den raffinierten Bildinszenierungen heutiger Teenager. Es geht also nicht darum, Kulturpessimismus zu verbreiten und angstvoll in eine bedrohliche Zukunft zu blicken, sondern besser zu verstehen, welche Rolle Bilder in der gegenwärtigen Gesellschaft spielen.


Ein zentraler Beitrag zu unserem Jahresthema „Ökonomien der Sichtbarkeit“ ist ja die Einrichtung eines interaktiven Archivs mit dem fotografischen Nachlass von Pierre Bourdieu in der White Box. Der französische Soziologe hat sich in den 1950er- und 1960er-Jahren sehr viele Gedanken darüber gemacht, wie er Lebenszusammenhänge, soziale Verhältnisse und den Habitus von Menschen ins Bild setzt, ohne einen paternalistischen Blick zu entwickeln oder Menschen zu Forschungsgegenständen zu machen. Die Begegnungen, die man auf seinen Bildern erkennt, sind von einer ganz bestimmten Diskretion geprägt. Wir könnten uns vor dem Hintergrund dieses Archivs also fragen, wie es heute um diese Diskretion steht. Auch war es für Bourdieu ungemein wichtig, seine Fotografien nicht als Kunst zu betrachten. Auch diese scharfe Trennung zwischen Kunst, wissenschaftlichem und alltäglichem Bildgebrauch ist heute nicht mehr so ohne weiteres vorzunehmen. Sie war aber vor ein paar Jahrzehnten noch ungemein wichtig.


Ich erinnere mich noch sehr gut an die Debatten während meines Studiums bei Gottfried Boehm in Basel Ende der 1980er-Jahre. Boehm, der die Entwicklung der Bildwissenschaft als eigener Disziplin ganz wesentlich mitgeprägt hat, vertrat damals die Ansicht, dass die Videokunst als Zeitkunst nicht mit der elaborierten Tradition unbewegter Bilder mithalten könne. Das bewegte Bild schien erkenntnistheoretisch vielen als weniger wertvoll. Es war Boehm damals deshalb ein wichtiges Anliegen, das Bild in der Academia als Erkenntnismedium eigenen Rechts in Position zu bringen. Er rief 1994 den Iconic Turn aus und dies vor allem, um ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Bilder nicht nur Wirklichkeiten abbilden oder bestehendes Wissen illustrieren, sondern als Erkenntnisinstrumente zu begreifen und zu erkunden sind. Dies erschien vor allem deshalb geboten, weil in der naturwissenschaftlichen Forschung bildgebende Verfahren eine immer größere Rolle spielten, ohne dass man sich viele Gedanken zum Erkenntnisstatus von Bildern machte und ohne dass die Bildnutzung auf hohem Niveau reflektiert wurde. Boehm insistierte daher gerade vor dem Hintergrund einer zunehmenden Bilderflut darauf, dass es erkenntnistheoretisch gesehen starke und schwache Bilder gibt – und eben Bilder, die Sinn hervorbringen und solche, die nicht nur illustrieren, wiedergeben und zeigen.


Ich denke, dass sich viele seiner Fragen heute etwas anders stellen, aber an der Ausbildung unserer Bildkompetenz und der Entwicklung eines Urteilsvermögens, das uns besser abschätzen lässt, welche Effekte Bilder erzielen und welche Rolle dabei ihr Gebrauch spielt, sollten wir noch arbeiten.

Titelbild: 

| Brigitta Schneiter / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Bilder im Text: 

| Stéphan Valentin / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link

Mr Cup / Fabien Barral / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm

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