Systemtheorie

Profile können nicht lügen

von Professor Dr. Dirk Baecker | Zeppelin Universität
09.10.2013
Ohne jede Anstrengung beherrschen wir alle den Verdacht, dass der andere rechnet, die Beobachtung, dass der andere an bestimmte Perspektiven gebunden ist, und die Ahnung, dass auch der andere um seine Position fürchtet.

Professor Dr. Dirk Baecker
Lehrstuhl für Kulturtheorie und -analyse
 
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    Professor Dr. Dirk Baecker

    Professor Dr. Dirk Baecker ist Inhaber des ZU-Lehrstuhls für Kulturtheorie und -analyse. Der studierte Soziologe und Nationalökonom forschte und lehrte in Bielefeld, Wien, Kalifornien, Maryland und London. 1996 wurde er an die Universität Witten/Herdecke berufen, wo er das Management Zentrum Witten mitgründete und den Lehrstuhl für Unternehmensführung, Wirtschaftsethik und sozialen Wandel und später den Lehrstuhl für Soziologie innehatte.

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In der gegenwärtigen Gesellschaft geht es zu wie bei Hofe. Jeder beobachtet jeden; und jeder weiß schon im Vorhinein, wer wegen welcher Erinnerungen, Wahrnehmungen und Hoffnungen welche Initiativen startet. Und niemand, auch die Massenmedien nicht, liefert Informationen, die nicht selbst vom Hexenkessel der Beobachtung zweiter Ordnung, der Beobachtung des anderen als Beobachter, der nur sehen kann, was er sehen kann, und nicht sieht, dass er nicht sieht, was er nicht sieht (Heinz von Foerster), bis ins Mark infiziert sind. Wenn wir uns einen Moment mit diesem Befund beschäftigen, verstehen wir möglicherweise etwas besser, warum die letzte Bundestagswahl so entschieden in der Frage des Siegers und so unentschieden in der Frage einer Koalitionsaussage ausgegangen ist.

Die Geschichte der Entwicklung wechselseitiger Beobachtungen in der menschlichen Gesellschaft ist rasch erzählt, wenn auch noch lange nicht in allen ihren Dimensionen ausgelotet und verstanden. In Stammesgesellschaften beobachten einfache Stammesmitglieder Schamanen, die Geister beobachteten und dabei nie aus den Augen verlieren, wie sie selber beobachtet werden. Magie heißt, Tricks wirksam werden zu lassen, von denen alle ahnen und niemand weiß, dass es sich um Tricks handelt. In antiken Gesellschaften werden Götter beobachtet, um von ihnen zu lernen, wie man sich in seinen Leidenschaften zugleich adressierbar und unberechenbar macht. Leidenschaften werden obsessiv verfolgt, können aber jederzeit gewechselt werden.

Ich beobachte dich, du beobachtest mich, wir beobachten uns.
Ich beobachte dich, du beobachtest mich, wir beobachten uns.

In der modernen Gesellschaft setzt das Bürgertum seine Beobachtung von Interessen gegen die Leidenschaften des Adels durch und profitiert davon, dass man Interessen sowohl haben als auch wechseln kann. „Interessen lügen nicht“, war die Maxime, die die Duke de Rohan 1638 ausgab und die zunächst ins Zentrum der politischen Semantik gestellt wurde, dann jedoch zum Selbstverständnis unternehmerischen Handelns im Kontext ungewisser Chancen, unsicherer Partner und riskanter Entscheidungen wurde.

Und heute? Wir haben es nicht mehr nur mit Tricks, nicht mehr nur mit Leidenschaften und nicht mehr nur mit Interessen zu tun. Genauer gesagt, wir haben es mit all dem durchaus noch zu tun, aber die Tricks, die Leidenschaften und die Interessen haben wir längst durchschaut. Wir können sie gar nicht so schnell wechseln, wie wir uns mit neuen Adressierbarkeiten und neuen Undurchschaubarkeiten im sozialen Spiel ausstatten müssen. Was also machen wir stattdessen? Und worin besteht das Problem?

Menschen sind Theorien immer einen Schritt voraus

Das Problem besteht darin, dass die Spiel-, System- und Netzwerktheorien, die die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften entwickelt haben, um sozialen Akteuren und ihren Kalkülen auf die Spur zu kommen, nicht nur in der Wissenschaft, sondern längst auch im Alltag verbreitet sind. Die raffinierten Modelle, die die Wissenschaft entwickelt, sind die explizite, nicht immer unbedingt korrekte Form eines impliziten Wissens, dass die meisten Akteure auf den anspruchsvolleren Feldern der Gesellschaft, in der Politik, auf Märkten, in Organisationen, beim Sport und in der Kunst, allemal bereits beherrschen, auch wenn sie, typisch für implizites Wissen, die größten Schwierigkeiten hätten, zu verstehen und zu erläutern, was sie wissen.

Ohne jede Anstrengung beherrschen wir alle den Verdacht, dass der andere rechnet, die Beobachtung, dass der andere an bestimmte Perspektiven gebunden ist, und die Ahnung, dass auch der andere um seine Position fürchtet. Die Spieltheorie expliziert diesen Verdacht, die Systemtheorie diese Beobachtung und die Netzwerktheorie diese Ahnung.

Der infinite Regress des Kalküls der Kalküle aller

Das Problem besteht darin, dass wir trotz dieses Verdachts, dieser Beobachtung und dieser Ahnung Entscheidungen treffen müssen. Wie schaffen wir das, ohne uns in einen infiniten Regress des Kalküls der Kalküle aller anderen zu verlieren? Was beobachten wir, wenn es die Tricks, die Leidenschaften und die Interessen aller anderen nicht mehr sind, sondern wenn wir längst wissen, dass diese die Köder sind, die uns hingeworfen werden, um uns auf deren Spiele einzulassen?

Richtig, wir beobachten Profile. Profile bestehen erstens aus Bindungen, auf die sich andere einlassen, um für uns adressierbar und damit berechenbar zu werden. Profile bestehen zweitens aus Perspektiven, deren Kontingenz mitreflektiert wird, um laufend neue Gründe für sie sammeln und sie so flexibel halten zu können. Und Profile bestehen drittens aus der Benennung von Positionen für Partner, die so benannt werden, dass Bedingungen ihrer Austauschbarkeit mitformuliert werden.

Profile lügen nicht

Unter diesen drei Voraussetzungen kann man sagen: Profile lügen nicht. Ein Profil ist der Entwurf des Selbstverständnisses eines Beobachters für andere Beobachter derart, dass die Bedingungen, unter denen sich andere Beobachter auf den ersten Beobachter einlassen können, als Bedingungen verstanden werden, die der erste Beobachter nicht setzen, sondern nur akzeptieren kann. Unter dieser Voraussetzung und nur unter dieser Voraussetzung wird der erste Beobachter für andere verlässlich, ohne seinen Bewegungsspielraum zu verlieren.

Für das Verständnis des Ausgangs der Bundestagswahl bedeutet dies, dass die Mehrheit sich für ein Profil entschieden hat, dass sich progressiv an die Bedingung gebunden hat, schon jetzt zu wissen, dass man nicht weiß, was bereits morgen konservativ zu bewahren ist. Und es bedeutet, dass eine Koalitionsaussage schwierig wird, solange kein Partner gefunden wird, der bei dieser Kombination von Adressierbarkeit und Unberechenbarkeit mitspielen kann.

Die Liberalen sind raus aus dem Spiel, weil Freiheit nicht mehr als Eingeständnis von Nichtwissen verstanden wird. Die Sozialdemokraten haben mit ihrer Bindung an die Gewerkschaften jene feste Position verloren, deren Vorteil es war, sie laufend ändern zu können (die Höhe der Löhne). Die Grünen verlieren sich in einer Gesinnungsethik, die umso hartnäckiger verteidigt wird, je mehr das Milieu bröckelt, das sich in der Suche nach dieser Ethik selbst gefunden hatte. Und über andere muss man hier nicht reden.



TitelfotoSociology At Work

TextMichael Dunn (beide CC BY-NC-SA 2.0)

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