Bundestagswahl 2017

Schluss mit sozialdemokratischem Schlingerkurs

Mit Martin Schulz kann der Neuanfang gelingen. Er verkörpert eine Sozialdemokratie des Mitmachens, des Gehörtwerdens und des Streitens eben für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität.

Sven Liebert
PAIR-MA-Studierender an der Zeppelin Universität
 
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    Sven Liebert

    Sven Liebert ist 26 Jahre alt und seit 2009 Mitglied der SPD. Er ist Student im Masterstudiengang Politics, Administration and International Relations an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Für seine Masterarbeit forscht er zur Zukunft der Parteien. 

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Martin Schulz ist der stärkste Kandidat, den die SPD zu bieten hat. Als Mr. Europa denkt er Politik im richtigen Kontext – dem europäischen. Der Präsident des Europaparlaments steht für die großen Zusammenhänge. Mit Schulz kann er gelingen, der Neuanfang. Ein Jahr vor der Bundestagswahl geht es für die SPD darum, verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. Der Kanzlerkandidat muss den Genossen Orientierung und Perspektive geben, der Partei Authentizität verleihen.


Wenn Martin Schulz sagt: „Lieber Herr Erdoğan, Sie sind einen Schritt zu weit gegangen. So nicht!“, so steht dieser Satz doch gerade für den Klartext, den viele und vielleicht besonders die Jüngeren nach zehn Jahren Merkel-Regierung vermissen. „Wir sind dabei, den europäischen Geist in die Tonne zu treten“ – hier finden wir doch wieder die Ehrlichkeit, die wir in der Politik so oft verloren glaubten. Politische Vorbilder sind heutzutage rar gesät. Von guten Rednern ganz zu schweigen. Martin Schulz ist beides. Bei ihm hat man das Gefühl, dass es sich endlich wieder lohnt, zu streiten.

Martin Schulz, geboren 1955, Präsident des Europäischen Parlaments, die Hoffnung der SPD. Schulz gilt als furchtloser Kämpfer für die Ideale der Europäischen Union, fördert Integration und Toleranz, scheut sich nicht vor Auseinandersetzungen mit ungeliebten Partnern. Schulz erkennt in der Krise seiner Partei seine persönliche Chance. Er nähme das Risiko eines schweren Wahlkampfes in Kauf, weil er weniger zu verlieren hat als die anderen. Er hat den Zenit seiner Macht bereits hinter sich und wird sein Amt in Brüssel demnächst turnusmäßig los. Wenn er 2017 nicht den Sprung in die Bundespolitik schafft, dann würde er als degradierter Europa-Politiker karrieremäßig hernieder segeln. Er könnte also selbst mit einer verlorenen Kandidatur am meisten gewinnen – möglicherweise gar das Vizekanzleramt in einer neuerlichen Großen Koalition.
Martin Schulz, geboren 1955, Präsident des Europäischen Parlaments, die Hoffnung der SPD. Schulz gilt als furchtloser Kämpfer für die Ideale der Europäischen Union, fördert Integration und Toleranz, scheut sich nicht vor Auseinandersetzungen mit ungeliebten Partnern. Schulz erkennt in der Krise seiner Partei seine persönliche Chance. Er nähme das Risiko eines schweren Wahlkampfes in Kauf, weil er weniger zu verlieren hat als die anderen. Er hat den Zenit seiner Macht bereits hinter sich und wird sein Amt in Brüssel demnächst turnusmäßig los. Wenn er 2017 nicht den Sprung in die Bundespolitik schafft, dann würde er als degradierter Europa-Politiker karrieremäßig hernieder segeln. Er könnte also selbst mit einer verlorenen Kandidatur am meisten gewinnen – möglicherweise gar das Vizekanzleramt in einer neuerlichen Großen Koalition.

Schulz ist ein unerschütterlicher Europäer: „Wenn wir uns in unsere Einzelteile zerlegen, dann versinkt Europa in der Bedeutungslosigkeit“, sagt er und appelliert unermüdlich an den europäischen Zusammenhalt. Für ihn ist die EU nicht nur eine Wirtschaftsunion. Es gibt eben nicht nur die „Technokraten“ da in Brüssel. Martin Schulz füllt die europäische Idee mit Leben, glaubt an die Wertegesellschaft. Für ihn ist Europa nicht weniger als „die Hoffnung auf eine bessere Zukunft“ und er will das „verloren gegangene Vertrauen zurückgewinnen, Europa endlich verstehbar machen, Europa ein vertrautes Gesicht geben“. Genau das ist es, was nicht nur Europa, sondern auch die SPD braucht: Vertrauen, ein vertrautes Gesicht und wieder ein lebhaftes Streiten für die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.


Mit Martin Schulz hat die SPD die Chance, über Nationalstaatsgrenzen hinauszudenken. Was bedeuten die Grundwerte der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität eigentlich im Kontext einer immer globaler werdenden Welt? Was bringt uns langfristig die alleinige Energiewende, eine Finanztransaktionssteuer oder ein höherer Arbeitnehmerschutz, wenn diese nicht auch im europäischen Verbund gesichert werden?

Unter einem Kandidaten Schulz könnte sich die SPD als starke pro-europäische Kraft präsentieren, die sich konsequent für ein gerechteres, innovativeres, demokratischeres, schlicht ein besseres Europa einsetzt. Eine solche Kraft könnte die europäische Sozialdemokratie einen und zeitgleich im nationalstaatlichen Kontext europäisch handeln.


Natürlich, mit Europa allein gewinnt man keine Wahlen. Ich bin überzeugt: Bei allen Themen, ob Digitalisierung, Zuwanderung, Arbeitsplatzsicherheit und vielleicht sogar endlich neuen Bildungskonzepten für die Republik kann man die Wahlen nur mit einem europäischen Fokus gewinnen. Denn wer Europa nicht mitdenkt, hat die Zukunft nicht im Blick.


Schulz kann die Menschen begeistern. Und er kann zuhören, verstehen, wahrnehmen. Auf dem vergangenen Europatag sagte er: „Es ist an der Zeit, für Europa zu kämpfen“ und forderte uns auf, für Europa aufzustehen. Tatsächlich schien ein Ruck durch die Reihen zu gehen.

Sigmar Gabriel, geboren 1959, Vizekanzler, Finanzminister, Parteivorsitzender, Schreckgespenst der Umfragewerte. Gabriel ist in der Partei umstritten, Rüstungsdeals mit undemokratischen Regimen und fehlende Bekenntnisse zu Erneuerbaren Energien lassen die Parteibasis an Gabriel zweifeln. Für 2017 fordert Gabriel einen „Aufbruch für Deutschland“, fordert mehr Mittel für soziale Gerechtigkeit, Bildungsinvestitionen und Digitalisierung. Zusätzlich verspricht Gabriel Steuerentlastungen, an denen schon jetzt gezweifelt wird. Doch alte Genossen stellen sich hinter den aktuellen Vizekanzler. Gehard Schröder mahnte zuletzt seine Genossen: „Lasst Gabriel nicht allein!“ Ein Hoffnungsschimmer?
Sigmar Gabriel, geboren 1959, Vizekanzler, Finanzminister, Parteivorsitzender, Schreckgespenst der Umfragewerte. Gabriel ist in der Partei umstritten, Rüstungsdeals mit undemokratischen Regimen und fehlende Bekenntnisse zu Erneuerbaren Energien lassen die Parteibasis an Gabriel zweifeln. Für 2017 fordert Gabriel einen „Aufbruch für Deutschland“, fordert mehr Mittel für soziale Gerechtigkeit, Bildungsinvestitionen und Digitalisierung. Zusätzlich verspricht Gabriel Steuerentlastungen, an denen schon jetzt gezweifelt wird. Doch alte Genossen stellen sich hinter den aktuellen Vizekanzler. Gehard Schröder mahnte zuletzt seine Genossen: „Lasst Gabriel nicht allein!“ Ein Hoffnungsschimmer?

Genau das braucht ein Kanzlerkandidat der SPD, der die Partei in dieser nicht so einfachen Phase motivieren muss. Schulz ist ein Experte für schwierige Aufgaben: Wer täglich einen ganzen, komplexen Kontinent mit seiner Leidenschaft und Optimismus einen soll, der scheut auch vor der SPD nicht zurück. Diese Fähigkeit zur Leidenschaft wird in der SPD dringender gebraucht denn je.


Martin Schulz ist eine Institution. Man traut ihm nicht zu, dass er sich in Einzelinteressen, im Kleinklein oder gar in reinen Parteiinteressen verliert. Wenn Schulz sagt: „Wir dürfen zu Grundrechtsverletzungen in der Türkei nicht schweigen, nur weil wir in der Flüchtlingsfrage zusammenarbeiten“, dann beweist er damit Haltung und einen moralischen Kompass. Damit ist er authentisch, kein „Zickzack-Kurs“ durch realpolitische Zwänge, nein, es geht ihm um das große Ganze. Und deshalb schmiss er auch den EU-Abgeordneten Eleftherios Synadinos aus der Sitzung, nachdem dieser sich rassistisch über die Türkei geäußert hatte. Schulz´ Auftritt und seine Rhetorik stehen im Widerspruch zum verstaubten und bürokratischen Bild von Brüssel.

In Deutschland sind die Herausforderungen für die SPD immens. Nur 32 Prozent der Bürger verbinden sie noch mit einer Kompetenz in ihrem Kernbereich der sozialen Gerechtigkeit und dies ist wie Sigmar Gabriel es beschreibt eine „existentielle“ Bedrohung.


Doch auch hier bringt Schulz Kompetenzen mit: Als Präsident des Europäischen Parlaments sah er sich immer als Vertreter der Bürger in Europa, wetterte gegen die ungleiche Besteuerung von Großkonzernen und machte den „Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit“ zu seiner obersten Priorität. Es war Schulz, der erkannte, dass man für ein Europa der Chancen alle Menschen mitnehmen muss und dass die Fragestellung der sozialen Gerechtigkeit im nationalstaatlichen Kontext unlösbar bleibt.

Nils Schmid, geboren 1973, Spitzenkandidat zur Landtagswahl in Baden-Württemberg, gescheiterter Landeschef. Erst vor wenigen Tagen zog er die Konsequenz aus der deutlichen Niederlage bei der Landtagswahl – er holte nur 12,7 Prozent und halbierte das schwache Ergebnis der Vorwahl nahezu. Der SPD-Landeschef von Baden-Württemberg kandidiert im Herbst nicht erneut für das Parteiamt. Die SPD im Land litt besonders unter dem schlechten Partei-Image auf Bundesebene. Nun befindet sich die Landespartei in einer tiefen Krise. Wegen der SPD-Schwäche reichte es nicht für die Fortsetzung der grün-roten Landesregierung, in der Schmid seit 2011 Vizeregierungschef sowie Wirtschafts- und Finanzminister war. Die Grünen mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann regieren jetzt mit der CDU als Juniorpartner.
Nils Schmid, geboren 1973, Spitzenkandidat zur Landtagswahl in Baden-Württemberg, gescheiterter Landeschef. Erst vor wenigen Tagen zog er die Konsequenz aus der deutlichen Niederlage bei der Landtagswahl – er holte nur 12,7 Prozent und halbierte das schwache Ergebnis der Vorwahl nahezu. Der SPD-Landeschef von Baden-Württemberg kandidiert im Herbst nicht erneut für das Parteiamt. Die SPD im Land litt besonders unter dem schlechten Partei-Image auf Bundesebene. Nun befindet sich die Landespartei in einer tiefen Krise. Wegen der SPD-Schwäche reichte es nicht für die Fortsetzung der grün-roten Landesregierung, in der Schmid seit 2011 Vizeregierungschef sowie Wirtschafts- und Finanzminister war. Die Grünen mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann regieren jetzt mit der CDU als Juniorpartner.

Schulz sucht immer den Interessensausgleich. Wenn große Politikvorhaben wie TTIP nicht an einem Widerstand der Bevölkerung scheitern sollen, dann braucht es den frühen Dialog in einer verständlichen Sprache. Schulz kann diesen Dialog leisten, oft genug erklärt er das technokratische Europa und ist doch frei von Lagerdenken und offen für Debatten mit allen Anspruchsgruppen. Bei TTIP könnte es ihm gelingen, die festgefahrenen Vorurteile zwischen Gegnern und Befürwortern aufzubrechen, in die Debatte eine neue Sachlichkeit zu bringen. Genau das ist sein Vorteil gegenüber Wirtschaftsminister Gabriel, der zwar als Akteur und Interessensvertreter, aber nicht mehr als Mittler wahrgenommen wird.


Viel steht 2017 auf dem Spiel für die SPD. Es geht womöglich um nichts Geringeres als die Zukunft der Sozialdemokratie. Mit Martin Schulz kann der Neuanfang gelingen. Er verkörpert eine Sozialdemokratie des Mitmachens, des Gehörtwerdens und des Streitens eben für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Genosse Martin, bitte übernehmen!

Der Artikel ist am 25.05.2016 auf „ZEIT ONLINE“ unter dem Titel „Genosse Martin, bitte übernehmen!“ erschienen.


Titelbild: 

| Parti socialiste / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0


Bilder im Text: 

| Parti socialiste / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)

| SPD Schleswig-Holstein / flickr.com (CC BY 2.0)

Olaf Kosinsky / Own work (CC BY-SA 3.0 de)


Beitrag (redaktionell unverändert): Sven Liebert

Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm

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