Gegenwärtige Stimmungsbilder

Entspanntes Katastrophenjahr

Schrille Prognosen im Blick auf die möglichen Folgen bestimmter Entscheidungsmomente lösen sich in einen zentrifugalen Radius vielfacher Effekte auf, der manchmal politische Landschaften, aber – im Sinn eines Nullsummenspiels – kaum je individuelle oder auch kollektive Lebenssituationen verändert.

Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Gastprofessur für Literaturwissenschaften
 
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    Zur Person
    Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht

    Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.  

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Selten hatte ein Jahr, global wohl und nicht nur in der Sicht habituell „kritischer“ Intellektueller, mit einer so tief depressiven Stimmung und derart düsteren Prognosen begonnen wie dieses. Wer die Nacht vom 31. Dezember 2016 auf den 1. Januar 2017 mit den üblich freundlichen Neujahrsfloskeln zu bestreiten suchte, wirkte naiv oder fiel – schlimmer noch – dem Verdacht anheim, nicht auf der kollektiv angepeilten Höhe politischer und ethischer Verantwortung zu leben. Wie in einem öffentlich ausgeschriebenen Tugendwettbewerb war man bemüht, sich wechselseitig mit Sarkasmen oder auch ernsthaften Ausdrücken der Sorge um das Wohl der Menschheit zu überbieten und wachzuhalten. Die Mehrheit der Wohlmeinenden hatte den Doppelschock des Brexit und der Wahl von Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten noch längst nicht überwunden.

Trump zumindest ist den steilen Erwartungen seiner Gegner durchaus gerecht geworden. Entgegen einem sich vor dem Amtsantritt gelassen gebenden Typ von Prognosen und trotz vielfacher, für ihn wohl überraschender Widerstände hat er keines seiner Wahlkampfschlager-Motive wie das Projekt einer gegen Mexiko zu errichtenden Mauer, verschärfte Einreisekontrollen oder die institutionelle Schleifung der Obamacare fallen lassen. Zugleich wird von Tag zu Tag deutlicher, dass sich aus der Sequenz seiner unermüdlichen Tweets und Resonanz-gierigen Provokationen keine kohärenten Strategien hochrechnen lassen, während andererseits die Interpretationen dieses Regierungsstils durch seinen jüngst heruntergestuften Berater Stephen Bannon in ihrer Kohärenz einen sonst meist anachronistischen Faschismusverdacht zu bestätigen scheinen – um von den permanenten Risiken erst gar nicht zu reden, die sich aus Trumps Mangel an außenpolitischer Erfahrung ergeben, und von der nun auch statistisch zu Tage tretenden Spaltung der amerikanischen Gesellschaft. Und doch haben sich die meisten von uns in weniger als drei Monaten an den neuen amerikanischen Präsidenten und seinen Stil gewöhnt — so sehr tatsächlich, dass die anhaltend empört bis beleidigt klingende Berichterstattung über das Weiße Haus längst ihre Attraktivität verloren hat. Selbst der Unterhaltungswert des überraschenden Wahlsiegers scheint sich abzunützen. Dabei verändert sich nichts in unserem Alltag – nicht einmal im Alltag der Vereinigten Staaten.

Als Donald Trump am 20. Januar kurz nach Mittag in das Amt des 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika eingeschworen wird, drohen die schlimmsten Befürchtungen für 2017 wahr zu werden. Tatsächlich will Trump Obamacare abschaffen, Freihandelsabkommen aufkündigen und eine Mauer zu Mexiko bauen. Zwar gewöhnten sich Medien und Bürger schnell an die Amtsführung des neuen Präsidenten, doch immer wieder sorgen seine Auftritte für Irritationen. Spätestens seit dem amerikanischen Engagement in Syrien ist Trump auch auf internationalem Parkett angekommen. Russland bezeichnet die Beziehungen zu den USA als so schwierig wie nie seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Katastrophenfaktor: Hoch.
Als Donald Trump am 20. Januar kurz nach Mittag in das Amt des 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika eingeschworen wird, drohen die schlimmsten Befürchtungen für 2017 wahr zu werden. Tatsächlich will Trump Obamacare abschaffen, Freihandelsabkommen aufkündigen und eine Mauer zu Mexiko bauen. Zwar gewöhnten sich Medien und Bürger schnell an die Amtsführung des neuen Präsidenten, doch immer wieder sorgen seine Auftritte für Irritationen. Spätestens seit dem amerikanischen Engagement in Syrien ist Trump auch auf internationalem Parkett angekommen. Russland bezeichnet die Beziehungen zu den USA als so schwierig wie nie seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Katastrophenfaktor: Hoch.

Auch die ersten Reaktionen einer Mehrheit „bekennender Europäer“ (soll dieser so beliebte Ausdruck eigentlich andeuten, dass man mit einer solchen politischen Präferenz auf durchgehende Opposition stößt?), auch die bekennenden Europäer hatten zunächst die Vorstellungen von Großbritannien und dem Kontinent nach ihrer Trennung in dunkelster Monochromie ausgemalt. Der gerade Weg hin zur Spitzenstellung in der Weltwirtschaft sei nun für immer unterbrochen, und vor allem die Bewohner des Vereinten Königreiches sollten bald auf vielen Ebenen für ihre kollektive Fehlentscheidung bestraft werden. Dem entgegen hat sich der nächste Schritt bisher allein als ein bürokratischer und protokollarischer Albtraum erwiesen, während die betroffenen Wirtschaften aus differenzierten Hochrechnungen mittlerweile einen eher indifferenten Optimismus zu schöpfen scheinen.

Dies scheint die Grundstruktur einer ebenso neuen wie undramatischen Erfahrung zu sein. Schrille Prognosen im Blick auf die möglichen Folgen bestimmter Entscheidungsmomente lösen sich in einen zentrifugalen Radius vielfacher Effekte auf, der manchmal politische Landschaften, aber – im Sinn eines Nullsummenspiels – kaum je individuelle oder auch kollektive Lebenssituationen verändert. Wie viele leidenschaftliche Selbstanklagen hatte nicht der kurze Popularitätsstoß der AfD noch bis vor wenigen Wochen ausgelöst? Inzwischen sind die inneren Intrigen und äußeren Strategien dieser Partei angesichts schnell schwindender Resonanz keiner Empörung, ja eigentlich nicht mal der Erwähnung wert. Schon der unerwartete Schulz-Effekt der SPD dementierte die AfD als drohendes Potential, und inzwischen ist auch dieser Effekt von einer Dämpfungswelle in der politischen Stimmung absorbiert worden, auf der niemand gelassener surft als Angela Merkel.

Leben wir also in einer – so noch gar nicht begrifflich gefassten – Gegenwart von weichen Fluktuationen und prägnanten Kontinuitäten? Je mehr ich reise, desto schneller gewinnt genau diese Formel an Konturen. Mindestens einer von zwei Witzen, die man heute in Russland hört, klagt die personell offenbar auf Dauer gestellte politische Situation an, aber zugleich geben die Medien, die turnusgemäßen Wahlergebnisse und letztlich auch individuelle Gespräche kaum Anhaltspunkte für eine breite Sehnsucht nach Veränderung. Die endlos wiederholbare Rochademöglichkeit zwischen Wladimir Putin als (derzeitigem) Präsidenten und Dmitri Medwedew als (derzeitigem) Ministerpräsidenten scheint trotz aller Proteste und zynischen Bemerkungen den Wünschen einer erstaunlich soliden Mehrheit zu entsprechen.

„Lass uns Freunde bleiben“ – wer diesen Satz am Ende einer Beziehung schon einmal genutzt oder gehört hat, der weiß: So wird aus einer Trennung nie etwas. Trotzdem läuft der Rückzug Großbritanniens aus der Europäischen Union spätestens seit dem 29. März auf Hochtouren, als Premierministerin Theresa May offiziell den entsprechenden Antrag einreichte. Großbritannien will mit dem Brexit auch aus dem europäischen Binnenmarkt ausscheiden, was ein Ende der Personenfreizügigkeit bedeuten würde. Waren sollen dann mittels eines Freihandelsabkommens zwischen der EU und Großbritannien ausgetauscht werden können. Die höheren Beiträge der verbleibenden 27 Mitgliedsstaaten zum EU-Haushalt könnten steigen – nach Einschätzung des EU-Haushaltskommissars Günther Oettinger müsste alleine Deutschland rund eine Milliarde Euro auf den Tisch legen. Katastrophenfaktor: Mittel.
„Lass uns Freunde bleiben“ – wer diesen Satz am Ende einer Beziehung schon einmal genutzt oder gehört hat, der weiß: So wird aus einer Trennung nie etwas. Trotzdem läuft der Rückzug Großbritanniens aus der Europäischen Union spätestens seit dem 29. März auf Hochtouren, als Premierministerin Theresa May offiziell den entsprechenden Antrag einreichte. Großbritannien will mit dem Brexit auch aus dem europäischen Binnenmarkt ausscheiden, was ein Ende der Personenfreizügigkeit bedeuten würde. Waren sollen dann mittels eines Freihandelsabkommens zwischen der EU und Großbritannien ausgetauscht werden können. Die höheren Beiträge der verbleibenden 27 Mitgliedsstaaten zum EU-Haushalt könnten steigen – nach Einschätzung des EU-Haushaltskommissars Günther Oettinger müsste alleine Deutschland rund eine Milliarde Euro auf den Tisch legen. Katastrophenfaktor: Mittel.

Und diese Mehrheit macht sich kaum Illusionen. Dass des Präsidenten Privatvermögen vermutlich zum Reichtumsniveau der legendären russischen Oligarchen aufgeschlossen hat, wird vor allem mit einem Ton der Bewunderung kommentiert, die man nur gegenüber Ausländern ab und an mit kritischen Konnotationen würzt. Obwohl seit einigen Wochen bekannt ist, dass nun auch der Ministerpräsident seine Einflussmöglichkeiten genutzt hat, um sich in den Besitz eines Immobilien-Imperiums zu bringen, faszinieren an dieser Situation vor allem die Umstände, unter denen sie publik wurde. Offenbar gehört zu Medwedews Leben eine mild-pathologische Fixierung auf die neuesten Versionen (und auch auf historische Modelle) von Joggingschuhen, die er auf Reisen in größter Anzahl zum jeweils nächsten Ort seines Aufenthaltes vorausschicken lässt. Mit diesem Wissen gelang es, eine sich wiederholende Sequenz von Medwedew-Bewegungen innerhalb seiner eigenen Besitzungen nachzuweisen. Darauf reagierte „die Jugend“ mehrerer russischer Städte mit Protesten im klassischen Stil, was als Symptom einer funktionierenden politischen Öffentlichkeit die Permanenz der Regierung und ihrer Beziehungsstrukturen wohl eher konsolidieren als in Gefahr bringen wird. Sollte also auch die Überführung potentieller Spannungen und Antagonismen in Anekdoten zum Syndrom dieses enttäuschenden Katastrophenjahres gehören?

Und wie sieht es in demographisch kleineren Nationen und ihren politischen Strukturen aus? Die Beziehungskrise zwischen Georgien und Russland etwa, das zwei Provinzen der zum Nachbarland gewordenen ehemaligen Sowjetrepublik besetzt hält, könnte nach traditioneller Auffassung kaum dramatischer sein. Zugleich konvergieren die Feinde in frappierenden Ähnlichkeiten. Konkurrenzen zwischen potentiellen Regierungsparteien etwa – hört man in Tiflis – werden neutralisiert durch ihre gemeinsame und permanente Abhängigkeit von einem zentralen Oligarchen, dessen Palast dem Parlamentsgebäude wie eine kapitalistische Trutzburg an der Peripherie der Hauptstadt gegenübersteht. Portugal hingegen schreibt sich in die flacheren europäischen Amplituden des politischen Wechsels ein. Im Übergang von einer „rechten“ zu einer „linken“ Regierungskoalition wurden langfristige nationale Sparprojekte so minimal gelockert, dass die daraus erwachsenden Veränderungen aus der individuellen Perspektive des Durchschnittsbürgers kaum wahrzunehmen sind, während der symbolische Effekt dieser Maßnahmen einerseits für laute Genugtuung und andererseits für schrille Töne der Empörung sorgt. Nur der Schweiz fällt es als internationalem Emblem politischer Stabilität selbst heute schwer, dem besagten Trend des Nullsummeneffektes näher zu kommen, als dies schon immer der Fall gewesen ist.

Was zeichnet sich als Grund und als Fluchtpunkt für all diese Wenden zum Undramatischen ab? Haben sie einen Symptomwert für jene fortlaufende Phänomenologie der Gegenwart, an der Intellektuelle sich immer schon abarbeiten? Die gängigste Interpretation würde wohl auf „die Medien“ verweisen und ihnen vorwerfen, dass sie als Resonanzverstärker stets zu sensibel (anders gesagt: „zu laut eingestellt“) sind — vor allem wohl in Deutschland, wo sich dieser Begriff nun schon seit Jahrzehnten einer disproportionalen Beliebtheit erfreut. Donald Trump etwa wäre so viel Aufmerksamkeit gar nicht wert? Doch an welchem Kriterium sollte sich das Niveau einer angemessenen Resonanz bestimmen lassen?


Eine andere, optimistischere Einschätzung der Lage verweist auf die Stabilität von Institutionen des politischen und des Rechtssystems, welche den Einflussmöglichkeiten exzentrischer politischer Protagonisten und den Konsequenzen ungewöhnlicher Ereignisse normalisierende und mithin kontinuitätsstiftende Grenzen gesetzt haben. Vor allem in der neuen politischen Lage der Vereinigten Staaten haben sich einschlägige Hoffnungen bisher erfüllt – und bestätigen die Funktion struktureller Konfigurationen, die unter dem Leitbegriff „checks and balances“ seit seiner Begründung im parlamentarisch-demokratischen System angelegt waren.

Zwar wünschen sich einer Umfrage zufolge 22 Prozent der Ostdeutschen die Alternative für Deutschland in den Bundestag, doch die Zustimmungswerte für die Rechtspopulisten schwanken. In den vergangen Wochen war die AfD in mehreren Umfragen abgesackt. Im „stern“-RTL-Wahltrend verharrt die Partei derzeit bei 8 Prozent. Vor drei Wochen hatte sie mit 7 Prozent den niedrigsten Wert seit November 2015 erreicht. Deutschlandweit würden es sogar 71 Prozent der Befragten begrüßen, wenn die Partei den Einzug ins Parlament im September verpasse – das ergab eine Forsa-Umfrage im Auftrag des „stern“. Intern streitet die Partei weiter darüber, ob Realpolitiker oder Rechtsaußen die programmatische Deutungshoheit gewinnen. Zwischen Frauke Petry und ihren Kritikern tobt ein Machtkampf, gegen den umstrittenen Thüringer Landesvorsitzenden Björn Höcke läuft sogar ein Parteiausschlussverfahren. Die Zerstrittenheit innerhalb der Partei könnte einen größeren Wahlerfolg verhindern. Katastrophenfaktor: Niedrig.
Zwar wünschen sich einer Umfrage zufolge 22 Prozent der Ostdeutschen die Alternative für Deutschland in den Bundestag, doch die Zustimmungswerte für die Rechtspopulisten schwanken. In den vergangen Wochen war die AfD in mehreren Umfragen abgesackt. Im „stern“-RTL-Wahltrend verharrt die Partei derzeit bei 8 Prozent. Vor drei Wochen hatte sie mit 7 Prozent den niedrigsten Wert seit November 2015 erreicht. Deutschlandweit würden es sogar 71 Prozent der Befragten begrüßen, wenn die Partei den Einzug ins Parlament im September verpasse – das ergab eine Forsa-Umfrage im Auftrag des „stern“. Intern streitet die Partei weiter darüber, ob Realpolitiker oder Rechtsaußen die programmatische Deutungshoheit gewinnen. Zwischen Frauke Petry und ihren Kritikern tobt ein Machtkampf, gegen den umstrittenen Thüringer Landesvorsitzenden Björn Höcke läuft sogar ein Parteiausschlussverfahren. Die Zerstrittenheit innerhalb der Partei könnte einen größeren Wahlerfolg verhindern. Katastrophenfaktor: Niedrig.

Dramatischer (und doch unter trendbewussten Intellektuellen längst konventionell) wirkt die Dämpfung unerwarteter Entwicklungen durch die wenig konturierte geschichts-philosophische Spekulation, dass sich hier der Beginn einer „post-politischen“ Gegenwart abzeichne – und die Variation von derart mit dem Präfix „post-“ verbindbaren Adjektiven lässt sich beinahe beliebig erweitern. Postuliert wird dann, dass die Politik nicht mehr jene systematisch dominante Rolle spielt, die ihr spätestens seit der Aufklärung zugewiesen war und heute noch zugetraut wird. Thesen dieses Stils allerdings bleiben regelmäßig eine Antwort auf die Frage schuldig, welche anderen Institutionen – allein oder in einer institutionellen Kombination – denn die Funktionen des Politischen übernommen haben könnten.

Das einschlägig deutlichste Inspirations- und Innovationspotential scheint in einem systemischen (oder systemtheoretischen) Ansatz zu liegen. Wenn man davon ausgehen kann, dass sich (erstens) die interne Komplexität der Koppelungen und wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen verschiedenen nationalen (und regionalen) Systemen vor allem in der Politik und der Wirtschaft während der vergangenen Jahrzehnte enorm gesteigert hat und dass wir uns (zweitens) genau auf diese Entwicklung mit dem Begriff der „Globalisierung“ beziehen, dann gelangen wir zu der Frage, ob ein globales politisches System überhaupt noch mit einer Umwelt rechnen kann, auf deren Einflüsse („Perturbationen“ hätte Niklas Luhmann gesagt) es mit internen Veränderungen reagiert. Ein solches Global-System mit unterkomplexer Umwelt wäre ja möglicherweise darauf angewiesen, intern neue Proportionen zwischen Veränderung und Stabilität zu produzieren, Proportionen zwischen Veränderung und Stabilität, deren Amplituden sich vielleicht als flachere von denen einer plurinationalen politischen Sphäre unterschieden.


Trump, Brexit oder AfD hätten dann nicht mehr den Stellenwert von einschneidend verändernden Ereignissen, sondern erschienen als intern über Bewegung letztlich Kontinuität stiftende Varianten innerhalb eines stabilen Status quo. Anders formuliert: In einem ohne Programm entstandenen Global-System politischer Vernetzungen würden jene Ereignisse zu einer Stabilitätsgarantie, welche unter national-politischen Bedingungen eine Bedrohung des Friedens waren.

Titelbild: 

| Photoshopper24 / Pixabay.com (CC0 Public Domain)


Bilder im Text: 

| White House Photographer / Official Facebook Page (CC0 Public Domain)

| frankieleon / Flickr.com (CC BY 2.0)

| Metropolico.org / Flickr.com (CC BY-SA 2.0)


Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht

Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm

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