Der Fall Cornelius Gurlitt

Stolpersteine in der Geschichte

Von Rechtswegen mag der Anspruch auf Restituierung nicht rechtmäßig erhaltener Kunstwerke längst verjährt sein, doch von der menschlichen Betrachtung her bleibt eine Unruhe, dass er die Kunstwerke am Ende auch zu Recht besessen haben soll.

Prof. Dr. Johannes Heil
Rektor der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg
 
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    Zur Person
    Prof. Dr. Johannes Heil

    Professor Dr. Johannes Heil wurde 1961 in Frankfurt am Main geboren. Nach dem dortigen Studium der Mittleren und Neueren Geschichte, Kunstgeschichte und Religionsphilosophie sowie Judaistikstudien in Frankfurt, Tel Aviv und Haifa promovierte Heil 1994 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität im Fach Mittlere und Neuere Geschichte. 2003 erfolgte die Habilitation am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin und im Fach Mittelalterliche Geschichte. Von 2003 bis 2005 verbrachte Heil Forschungsaufenthalte an der University of Wisconsin-Madison und an der University of Notre Dame im US-Bundesstaat Indiana. Seit 2005 ist Johannes Heil Inhaber der Ignatz-Bubis-Stiftungsprofessur für Religion, Geschichte und Kultur des europäischen Judentums an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg. Dort bekleidet er seit 2013 das Amt des Rektors. 

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Im Rahmen Ihres Besuches haben Sie über die „Stolpersteine in der Geschichte“ berichtet, insbesondere über den Fall Cornelius Gurlitt. Warum haben wir so lange gebraucht, um – im wahrsten Sinne des Wortes – über diesen Fall zu „stolpern“?

Prof. Dr. Johannes Heil: Der Punkt ist für mich gar nicht, dass wir lange zum Stolpern gebraucht haben. Es gab immer wieder Hinweise und man kann daraus sehen, dass das Umfeld nicht bereit war, dass das Interesse nicht da war, dass man einfach nicht richtig hingeguckt hat. Man hätte schon Siegfried Lenz 1968 fragen können, was das eigentlich für eine Geschichte ist, die er aufgeschrieben hat und wie er darauf gekommen war [im Jahr 1968 erschien der Roman „Deutschstunde“, in dem Lenz das zentrale Thema der deutschen Nachkriegsliteratur, die Verquickung von Schuld und Pflicht in der Zeit des Nationalsozialismus, besprach; Anm. d. Red.]. Ich bin mir sicher, Lenz hat mehr gewusst, als er in dieser Geschichte verpackt hat. Er hat die Struktur dieser Verschleierung von Umwidmung von Kunst, von Verkauf „entarteter Kunst“ gekannt – und das hat er aufgeschrieben. Es ist eine Frage des Interesses, hinzuschauen – und dann kam noch der alte Mann Hildebrand Gurlitt dazu, der nach Zürich fahren und ein Bild verkaufen wollte und sich dabei hat kontrollieren lassen. Erst dann kam die Geschichte ins Rollen. Die Frage ist eher, warum man nicht schon vorher hingeschaut hat – und warum am Ende erst der alte Mann nach Zürich fahren musste.

 

Als die Gemälde schlussendlich wieder aufgetaucht sind, prallten zwei Fronten aufeinander: Die Forderung nach der Rückgabe an die ursprünglichen Besitzer und die Frage nach Verjährungsfristen. Ein heikler Konflikt, den man wie lösen soll oder muss?

Heil: Dafür gibt es tatsächlich keine einfache Lösung, der nicht normative Kriterien und rechtliche Ansprüche entgegenstehen. Es gilt, einen moralischen, einen humanitären Zugang zu finden. Von Rechtswegen mag der Anspruch auf Restituierung nicht rechtmäßig erhaltener Kunstwerke längst verjährt sein, doch von der menschlichen Betrachtung her bleibt eine Unruhe, dass er die Kunstwerke am Ende auch zu Recht besessen haben soll. Hinzu kommt das Trauma, dass man gar nicht weiß, wie viel ihm davon selbst bewusst gewesen ist. So wie man ihn erlebt hat, musste man ihn eher bedauern. Er war nicht das Monster, nicht der Übeltäter, sondern ein hilfloser Mann, der da in seinen Bildern saß – und vielleicht gar nicht realisiert hat, dass das gar nicht seine sind. Eine einfache Lösung lässt sich da nicht formulieren. Eher ist der Fall ein Beispiel dafür, dass es Konflikte gibt, aus denen man auf einfachem Wege gar nicht herauskommt.

Die komplizierten Wege, die zur Lösungsfindung beschritten werden, verursachen durch ihre Komplexität hohe Kosten. Sollten wir die Gelder, die in Provenienzforschung fließen, nicht lieber in Projekte gegen zunehmenden Antisemitismus investieren, den unsere Gesellschaft gerade beobachten kann?

Heil: Wenn Gurlitt ein Einzelfall und ein Kuriosum wäre, dann ließe sich diese Frage ernsthaft diskutieren. Wenn man weiß, dass der Fall Gurlitt ein Exempel ist, das für viel weitere Kreise steht und man davon ausgehen muss, dass der Bereich des Unrechts, das in der NS-Zeit geschehen ist, vielleicht bis heute nur ansatzweise geheilt worden ist, dann wird man diese Kostenrechnung nicht aufmachen können. Eher wird man sagen, dass hier Geld sinnvoll investiert wurde, um Dinge auf den Weg zu bringen, die geklärt werden müssen. Dass man auf der anderen Seite Grassroot-Initiativen, die sich für Pluralität, Toleranz und gegen Fremdenfeindlichkeit einsetzen, dass man diese nicht austrocknen lässt, um hinterher zu sagen, wir haben ein Problem in der Gesellschaft und niemand tut etwas dagegen, aber vorher diese Initiativen aus den kommunalen Förderprogrammen herausnimmt, das ist ein Thema und ein Skandal für sich. Das passiert in großen Städten, so kenne ich das beispielsweise aus Berlin, genau so wie womöglich auch in anderen Räumen – und diese Initiativen müssen dringend gefördert werden. Aber ich würde es trotzdem nicht verrechnet haben wollen.

Links zwei Gemälde von Emil Nolde – „Christus und die Sünderin" und „Die klugen und die törichten Jungfrauen" –, rechts eine Skulptur von Gerhard Marcks – „Heilige Georg". Dazwischen inspiziert Joseph Goebbels die Exponate der Wanderausstellung „Entartete Kunst“ 1938 in Berlin. Die ursprünglich in München eröffnete Ausstellung zeigte 650 konfiszierte Kunstwerke aus 32 deutschen Museen. Denn als „Entartete Kunst“ galt während der nationalsozialistischen Diktatur als mit rassentheoretischen Begründungen diffamierte „Moderne Kunst“. Was mit dem Schönheitsideal der Nationalsozialisten nicht in Einklang zu bringen war, wurde konfisziert: Expressionismus, Dadaismus, Neue Sachlichkeit, Surrealismus, Kubismus, Fauvismus. Auch alle Werke von Künstlern mit jüdischem Hintergrund wurden als entartet bewertet. Wer weiter Künstlerisches schaffen wollte, erhielt Malverbot, wurde ins Exil gejagt oder in den Suizid getrieben. Besonders hart trafen die Beschlagnahmungen den berühmten Künstler Emil Nolde: Über 1.000 Bilder wurden beschlagnahmt, mehr als von jedem anderen Künstler.
Links zwei Gemälde von Emil Nolde – „Christus und die Sünderin" und „Die klugen und die törichten Jungfrauen" –, rechts eine Skulptur von Gerhard Marcks – „Heilige Georg". Dazwischen inspiziert Joseph Goebbels die Exponate der Wanderausstellung „Entartete Kunst“ 1938 in Berlin. Die ursprünglich in München eröffnete Ausstellung zeigte 650 konfiszierte Kunstwerke aus 32 deutschen Museen. Denn als „Entartete Kunst“ galt während der nationalsozialistischen Diktatur als mit rassentheoretischen Begründungen diffamierte „Moderne Kunst“. Was mit dem Schönheitsideal der Nationalsozialisten nicht in Einklang zu bringen war, wurde konfisziert: Expressionismus, Dadaismus, Neue Sachlichkeit, Surrealismus, Kubismus, Fauvismus. Auch alle Werke von Künstlern mit jüdischem Hintergrund wurden als entartet bewertet. Wer weiter Künstlerisches schaffen wollte, erhielt Malverbot, wurde ins Exil gejagt oder in den Suizid getrieben. Besonders hart trafen die Beschlagnahmungen den berühmten Künstler Emil Nolde: Über 1.000 Bilder wurden beschlagnahmt, mehr als von jedem anderen Künstler.

Sie erklären, der Fall Gurlitt sei weder Einzelfall noch Kuriosum. Im Rahmen unserer BürgerUniversität haben sie erläutert, dass wir den „dicken Fischen“ noch gar nicht auf die Spur gekommen sind. In welchen Dimensionen bewegen wir uns hier?

Heil: Ich bin dafür kein Experte und kann mir keine genaue Einschätzung der Zahlen anmaßen. Aber wenn tatsächlich fünf bis zehn Prozent dessen, was in unseren Museen hängt, tatsächlich eine problematische Provenienzgeschichte hat – und sie überschlagen jetzt die Anzahl der Museen und Galerien in Deutschland –, dann ist das ein erheblicher Umfang, der da ins Spiel kommt.

Gemeinsam mit Alexander Ruser und Katharina Koerth haben sie neben dem Fall Gurlitt auch ganz aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen in ihrer Funktion als Rektor der Hochschule für Jüdische Studien Heideberg thematisiert. Im Zusammenhang mit der noch immer andauernden Aufarbeitung der Gräueltaten der NS-Zeit ist es äußerst bedenklich, wenn eine Politikerin der Alternative für Deutschland den Begriff „völkisch“ auf einmal wieder positiv konnotieren will. Darf man so ein Gedankenspiel überhaupt diskutieren?

Heil: Wir können uns die Debatten nicht auswählen, die wir führen wollen. Diesen Begriff einzufordern, ist kein Straftatbestand. Wenn das ein Thema ist, was sich in der Gesellschaft bewegt, wenn man sich mit dieser absurden Forderung Gehör verschaffen kann, muss man sich auf diese Debatte einlassen. Und dann ist es unsere Aufgabe als Gesellschaft, meine Aufgabe als Historiker, darauf hinzuweisen, dass das Völkische an sich ein unpassendes Konstrukt ist. Wir sind nicht erst heute in einer pluralen Gesellschaft, sondern wir sind schon immer eine heterogene Gesellschaft gewesen. Der Versuch, über Klammerbegriffe eine kollektive Identität zu erzeugen, die Gleichförmigkeit bedeutet, der ist schon einmal gescheitert und fürchterlich schief gegangen. Und das ist in einer Zeit von Globalisierung und medialer Vernetzung der letzte Begriff, der ein Programm beinhalten kann, mit dem man Zukunft gestalten kann.

71 Jahre nach der Befreiung des letzten Konzentrationslagers können nur noch wenige Überlebende über die Gräueltaten der Nationalsozialisten berichten. Deutschlandweit sammeln Projekte eifrig Interviews – denn „ohne Zeitzeugen wird sich die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus verändern“, sagt Céline Wendelgaß, Ausstellungskoordinatorin bei der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main. Viele Museen setzen daher vor allem auf Videodokumentationen oder sogar Hologramme – die eine möglichst große Präsenz von Zeitzeugengesprächen erhalten sollen. Vor allem im Ausland ist so ein großes Erinnerungsrepertoire entstanden: 53.000 Interviews hat die US-amerikanische Shoah Foundation gesammelt, die israelische Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem verfügt über Aussagen von mehr als 125.000 Menschen. Denn, so stellt Gottfried Kößler, stellvertretender Direktor des Pädagogischen Zentrums in Frankfurt am Main, fest: „Auch wenn Zeitzeugen für die Erforschung des Holocaust womöglich nicht mehr die wichtigste Quelle sind: Es wird auf jeden Fall ein Verlust sein, wenn sie nicht mehr leben.“
71 Jahre nach der Befreiung des letzten Konzentrationslagers können nur noch wenige Überlebende über die Gräueltaten der Nationalsozialisten berichten. Deutschlandweit sammeln Projekte eifrig Interviews – denn „ohne Zeitzeugen wird sich die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus verändern“, sagt Céline Wendelgaß, Ausstellungskoordinatorin bei der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main. Viele Museen setzen daher vor allem auf Videodokumentationen oder sogar Hologramme – die eine möglichst große Präsenz von Zeitzeugengesprächen erhalten sollen. Vor allem im Ausland ist so ein großes Erinnerungsrepertoire entstanden: 53.000 Interviews hat die US-amerikanische Shoah Foundation gesammelt, die israelische Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem verfügt über Aussagen von mehr als 125.000 Menschen. Denn, so stellt Gottfried Kößler, stellvertretender Direktor des Pädagogischen Zentrums in Frankfurt am Main, fest: „Auch wenn Zeitzeugen für die Erforschung des Holocaust womöglich nicht mehr die wichtigste Quelle sind: Es wird auf jeden Fall ein Verlust sein, wenn sie nicht mehr leben.“

Eine Generation, die vor Gleichförmigkeit aktiv warnen konnte, stirbt aber gerade aus – und mit den letzten Zeitzeugen des Holocausts verlieren wir eine wichtige Generation. Wie kann die weitere Aufarbeitung auch ohne sie funktionieren?

Heil: Ich würde mir da gar nicht so viele Sorgen machen. Es hat sich herauskristallisiert, dass es Wendepunkte in der modernen europäischen und deutschen Geschichte gibt, die selbstverständlich thematisiert werden, und so wird auch die Nachfrage nach diesem Thema erhalten bleiben. Die Unmittelbarkeit des persönlichen Berichts der Zeitzeugen wird es nicht mehr geben, aber es wird zumindest eine Vielzahl von Texten geben, die praktisch einen Kanon der Stimmen der Zeit mitgeben werden. Und, das sollte man nicht unterschätzen, die Arbeiten zum Sammeln und Sicherstellen der Zeitzeugenberichte, die methodischen Arbeiten, der Umfang von Gesprächen, die geführt wurden – das hat auch ganz wichtige Instrumentarien für Zeitzeugenbefragung künftiger Generationen zu anderen Themen geliefert. Das heißt, es ist etwas gewonnen worden durch die Begegnung mit den Überlebenden, die bereit waren zu erzählen und denen es häufig auch ein großes Anliegen war zu erzählen. Das hat uns wiederum weitergebracht, damit wir in Zukunft nicht nur die richtigen Fragen im Nachhinein stellen, sondern hoffentlich auch die richtigen Einsprüche im Vornhinein machen.

Titelbild: 

| Michael Fielitz / flickr.com (CC BY-SA 2.0)


Bilder im Text: 

| Bildergalerie: Maximilian Klein / Zeppelin Universität

Bundesarchiv / Bild 183-H02648 (CC-BY-SA 3.0)

| bady / pixabay.com (CC0 Public Domain)


Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm

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