Lobbyismus

Über Wissen, Macht und Distanz

Wissenschaftler sollten verantwortungsvolle Ratschläge geben, nicht aber als Wissenschaftler die Verantwortung übernehmen.

Professor Dr. Nico Stehr
 
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    Zur Person
    Professor Dr. Nico Stehr

    Professor Dr. Nico Stehr ist Diplom-Volkswirt sozialwissenschaftlicher Richtung und lehrte seit seiner Habilitation bereits an unzähligen deutschen Universitäten, in Österreich, Kanada und den Vereinigten Staaten. Seit 2004 ist Stehr Lehrstuhlinhaber des Karl-Mannheim-Lehrstuhl für Kulturwissenschaften an der Zeppelin Universität Friedrichshafen. 2011 wurde Stehr ebenfalls in die Europäische Akademie der Wissenschaften und Künste berufen.

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    Zum Weiterlesen: „The Power of Scientific Knowledge"

    Oft heißt es, Wissen sei Macht. Doch welche Faktoren bestimmen den Erfolg der wissenschaftlichen Forschung in der Beeinflussung von Politik? Dieses Buch wählt einen vergleichenden und einen historische Ansatz, um zu untersuchen, wie politische Entscheidungen mit wissenschaftlichem Wissen zusammenhängen und ob wir tatsächlich von der oft beschworenen „Macht des Wissens“ sprechen können.

    Zum Weiterlesen: Mehr über Macht und Kultur von Experten

    Mehr über die Macht von Experten und Ratgebern ist von Professor Dr. Nico Stehr und Professor Dr. Reiner Grundmann im Buch „Expertenwissen: Die Kultur und die Macht von Experten, Beratern und Ratgebern" von 2010 zu lesen. Gemeinsam untersuchen die beiden die theoretische und praktische Bedeutung von Experten, Beratern und Ratgebern in der Gegenwartsgesellschaft. Dabei offenbart sich eine wachsende Schicht von wissensbasierten Berufen, die zur Pluralisierung von Expertise und zur Multiplikation von Experten geführt hat. Die beiden Autoren analysieren wichtige Aspekte von Expertentätigkeit und legen dar, dass die Rolle von Experten von anderen Professionen, Wissenschaftlern oder Intellektuellen unterschieden werden muss.

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Welche Gründe kann ein Politiker haben, sich nicht auf wissenschaftliche Expertise zu stützen – gerade jetzt in sich immer komplexer darstellenden Zeiten?

Professor Dr. Nico Stehr: Man muss sich bei der Beantwortung dieser Problematik zunächst einmal die Frage stellen, welche gesellschaftspolitische Rolle die Wissenschaft genau für sich beanspruchen kann? Gibt die Wissenschaft der Politik etwa Handlungsziele vor, mobilisiert die Wissenschaft nur unterschiedliche Szenarien, um ein bestimmtes politisches Ziel zu realisieren oder legitimiert die Wissenschaft sogar politische Entscheidungen? Ich bin der Ansicht, Wissenschaftler sollten sich der Rolle von ‚Honest Brokern’ verschreiben. Das sind aufrichtige Makler, die zwischen Wissenschaft und Politik vermitteln und den Entscheidungsträgern nicht vorgaukeln, dass ihre Erkenntnisse den Entscheidungsprozess bestimmen können. Weder die Politisierung der Wissenschaft noch die Verwissenschaftlichung der Politik sind deshalb sinnvolle, unterstützenswerte Modelle.

Das ist ein schmaler Grad, auf dem sich die Politik hier bewegt. Wie gut lässt sich in der Realpolitik das Gleichgewicht halten?

Stehr: Dass sich nicht immer die Balance halten lässt, zeigen die Realpolitik, die Wissenschaftspolitik oder die von Zeit zu Zeit aufkeimenden falschen Hoffnungen von Politik und Wissenschaft, dass wir auf dem Weg zur Abschaffung der Politik sind. Wissenschaftler sollten verantwortungsvolle Ratschläge geben, nicht aber als Wissenschaftler die Verantwortung übernehmen.

Zum Weiterlesen: „The Power of Scientific Knowledge"


Wäre die politische Debatte jedoch nicht zumindest fundierter, würden sich Politiker stärker an wissenschaftlichen Meinungen orientieren? Trotzdem entscheiden letztlich die Politiker.

Stehr: Genau das sollten die Politiker auch. Zusätzlich müssen auch die Entscheidungsprozesse noch mehr demokratisiert werden. Die Überlegung, dass die Teilhabe an politischen Entscheidungsprozesse in einer komplizierten Welt auf Experten mit dem notwendigen Fachwissen beschränkt sein sollte, ist eine irrsinnige These, und wird in der Regel von eigensinnig denkenden Experten lanciert.
Meine eigene Folgerung wäre, dass die Demokratie nicht so sehr von Wissen im Sinne des wissenschaftlichen und technischen Wissens lebt, als vielmehr die Tochter des Wissens ist. Die sogenannte Wissenheit als ein Bündel von kognitiven und sozialen Kompetenzen und Fähigkeiten stützt die Freiheiten, denn sie stärkt einerseits die Widerstandsfähigkeit von Individuen und kleinen Gruppen und schafft andererseits eine Rechenschaftspflicht der großen gesellschaftlichen Institutionen gegenüber den Bürgern in ihren diversen zivilgesellschaftlichen Rollen als Konsument, Staatsbürger, Wähler oder Arbeiter.

Haben Sie bei Ihren Recherchen Beispiele gefunden, in denen gravierende Fehleinschätzungen getroffen wurden, gerade weil man wissenschaftliche Gesichtspunkte außer Acht gelassen hat?

Stehr: Im Gegenteil! Wir haben Beispiele gefunden in der sich die Politik auf wissenschaftliche Erkenntnisse berufen hat, die ideologische Vorstellungen waren. Ein herausragendes Beispiel, das wir ausführlich behandeln, ist die Rassenwissenschaft. In Deutschland wurde die Rassenwissenschaft zum politischen Instrument und zur Legitimation für den Holocaust. Bei der Rassenwissenschaft ist offensichtlich, dass es große Unterschiede zwischen den Nationen gab, trotz einer gemeinsamen ‚wissenschaftlichen Grundlage’. Schließlich wurde der Holocaust nur von einer Regierung ausgeführt und von anderen Regierungen nicht.

Zum Weiterlesen: Mehr über Macht und Kultur von Experten


Gerade in ökologischen Fragen, insbesondere das Klima betreffend, werden dringliche Hinweise von Wissenschaftlern häufig von der Politik ignoriert. Ist hier das politische Kalkül wichtiger?

Stehr: Unter Klimaforschern, in der Klimapolitik und in den Medien lassen sich eine wachsende Ungeduld mit den Tugenden der Demokratie, sowie ein dringlicher Verweis auf die außergewöhnlichen Umstände unserer gegenwärtigen ökologischen Situation ausmachen. Es ist vor allem der Hinweis auf die Gefahren des Klimawandels für die Menschheit. Dabei wird jedoch nicht mehr nur der tiefe Graben zwischen Erkenntnis und Handeln beklagt, der die Moderne von Beginn an plagte. Heute wird die lästige ‚Demokratie als solche’ als die Schuldige ausgemacht. Es sind die Wissenschaftler, nicht die Politik, die Ungeduld zeigen.

Können Sie das präzisieren?

Stehr: Die Demokratie, so kann man die skeptischen Beobachtungen bilanzieren, sei ungeeignet, effektiv auf die Herausforderungen zu reagieren, vor denen Politik und Gesellschaft angesichts der Folgen des Klimawandels stehen. Insbesondere auf dem Gebiet der notwendigen Reduktion von Treibhausgasemissionen. Demokratisch organisierte Gesellschaften seien zu schwerfällig, um den Klimawandel zu vermeiden; sie handelten weder rechtzeitig noch umfassend. Daher müsse ein starker Staat die „großen Entscheidungen” treffen und die endlose Debatte auf diese Weise beenden. Es müsse gehandelt werden, lautet die Devise. Und damit wird die gewollte Demokratie in den Augen dieser Beobachter zur unbequemen Demokratie. Diese Thesen werden in Zukunft sicher noch häufiger vertreten werden und umso häufiger sollte man ihnen widersprechen.

Welche Chancen sehen Sie gerade in diesem Spannungsfeld in der politischen Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse für die Zukunft?

Stehr: Den wissenschaftlichen und technischen Erkenntnissen kommt in modernen Gesellschaften zweifellos eine wachsende Bedeutung für gesellschaftliche Veränderungen zu. Wissen wird zum Produktionsfaktor und zur Quelle wirtschaftlichen Wachstums, vielleicht sogar nachhaltigen Wachstums. Aber wachsende Erkenntnisse sind auch mit Risiken behaftet. Demzufolge wird die Frage, ob wir alle neuen Erkenntnisse auch wirklich umsetzen sollen, zu einer der entscheidenden politischen Fragen des 21. Jahrhunderts.



Bild: misterQM/photocase.com

Reiner Grundmann, Professor Nico Stehr: „The Power of Scientific Knowledge: From Research to Public Policy", Cambridge University Press, 240 Seiten, ISBN-10: 1107606721, ISBN-13: 978-1107606722

The Power of Scientific Knowledge
 
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