Big Data

Der gläserne Mensch

Gegen eine Beobachtung, die man vermutet, kann man Strategien entwickeln. Aber gegen eine Beobachtung, die so allumfassend ist, kann man sich nicht wehren.

Jun.-Prof. Dr. Marian Adolf
Juniorprofessur für Medienkultur
 
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    Zur Person
    Jun.-Prof. Dr. Marian Adolf

    Jun.-Prof. Dr. Marian Adolf ist Juniorprofessor für Medienkultur und Mitglied des Karl-Mannheim-Lehrstuhl für Kulturwissenschaft an der Zeppelin Universität Friedrichshafen. Seine Forschungsinteressen liegen in der Mediensoziologie, den Media Cultural Studies und der kritischen und konstruktivistischen Epistemologie. Zuvor lehrte und arbeitete der gebürtige Österreicher in Wien, Innsbruck und Mannheim.  

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    Factbox
    Big Data als Trumpf der Wiederwahlkampagne von Barack Obama

    Ein politisch relevanteres Beispiel ist die Wiederwahlkampagne von Barack Obama im Zuge der Präsidentschaftswahlen 2012. Dort fand ein Paradigmenwechsel in der Kampagnenplanung statt. Ein Team aus Computerexperten und u.a. auch ehemalige Poker-Spieler, identifizierte auf Basis verfügbarer Big Data, vor allem aus Sozialen Medien, eine Kerngruppe von circa einer Millionen Bürger, die in den „Swing States“ den Ausschlag geben könnten. Diese Wählergruppe sowie alle Personen aus deren Freundeslisten – insgesamt 15 Millionen potentielle Wähler – sprachen sie gezielt an. Das Kampagnenteam fand durch Big Data heraus, welche TV-Programme diese Gruppe am meisten nutzt und konnte so punktuell Wahlwerbung schalten. Das waren dann zum Teil sehr skurrile Programme, die auf kleinen Kabelkanälen mitten in der Nacht liefen. Diese gezielten Werbeplatzierungen waren viel billiger als die Werbeslots bei den großen Sendern. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Art der Kampagnenführung ein Schlüssel für Obamas Wahlsieg war, ist meiner Meinung nach sehr hoch. 

    Wo kann man sich über „Big Data“ informieren?

    Das wahrscheinlich erfolgreichste Buch zu dem Thema ist die Publikation „Big Data: A Revolution That Will Transform How We Live, Work and Think“ von Viktor Mayer-Schönberger, der mittlerweile am Oxford Internet Institut lehrt, und Kenneth Cukier. Auch sehr interessant ist „Big Data. Das neue Versprechen der Allwissenheit“ von Heinrich Geiselberger. Darin geben verschiedene Journalisten einen Überblick über das Thema. Unter anderem probieren die Autoren im Selbstversuch, alle Datenspuren, die sie selbst betreffen, aufzuspüren, und da gibt es so manches „Aha-Erlebnis“. 

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    Mehr ZU|Daily
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Kurz und schmerzlos, Herr Adolf: Was ist Big Data?


Jun.-Prof. Dr. Marian Adolf: Bisher gibt es noch keine genaue begriffliche Fassung von „Big Data“. Eine Möglichkeit ist der Versuch das Phänomen additiv zu erfassen. Mittermeier/Schönberger beschreiben Big Data als „more, messy and correlation“. Das ist nicht nur sprachlich unschön, sondern auch wild durcheinander gewürfelt. Eine andere Definition versucht das Phänomen entlang der sogenannten 4Vs einzugrenzen: volume, velocity, variety und veracity.
Generell geht es darum, dass wir erstens heute über immer mehr Daten verfügen, die Auskunft über immer mehr Tätigkeits- und Aktivitätsbereichen des menschlichen Lebens geben können. Zweitens sind diese Daten nicht verlässlich, sondern „messy“ – sie setzen sich aus verschiedenen Formen und Qualitäten zusammen. Sie können drittens wild korreliert werden und dadurch können wir Dinge beobachten, die vorher nicht sichtbar waren.
Ein Beispiel sind Autohersteller, die ihre Autositze mit zahlreichen Messpunkten ausstatten, sodass man errechnen kann, wer gerade auf dem Fahrersitz sitzt. Einerseits nimmt dann der Sitz die präferierte Sitzeinstellung automatisch vor, andererseits besteht dadurch zugleich auch die Möglichkeit, den Fahrer zu identifizieren und da wird es problematisch.

In Sachen Daten macht dem Schweizer CERN niemand etwas vor. Dort entstand ab 1990 nicht nur der erste Webserver der Welt, heute wird dort mit neuesten Teilchenbeschleunigern weltweit honorierte Physik-Forschung betrieben. Und dabei entstehen Daten ohne Ende: Pro Sekunde, in der Teilchen in der über 26 Kilometer langen Vakuumröhre des größten Teilchenbeschleunigers der Welt auf Hochtouren und zur Kollision gebracht werden, liefern die zahlreichen Sensoren rund ein Petabyte Daten. Das entspricht vier Milliarden Foto-Dateien pro Sekunde.
In Sachen Daten macht dem Schweizer CERN niemand etwas vor. Dort entstand ab 1990 nicht nur der erste Webserver der Welt, heute wird dort mit neuesten Teilchenbeschleunigern weltweit honorierte Physik-Forschung betrieben. Und dabei entstehen Daten ohne Ende: Pro Sekunde, in der Teilchen in der über 26 Kilometer langen Vakuumröhre des größten Teilchenbeschleunigers der Welt auf Hochtouren und zur Kollision gebracht werden, liefern die zahlreichen Sensoren rund ein Petabyte Daten. Das entspricht vier Milliarden Foto-Dateien pro Sekunde.

Was genau ist denn das Problem mit dieser Idee?


Adolf: Das Hauptproblem besteht darin, dass wir die umfassende Beobachtung unseres Tuns nicht gewohnt sind. Aus diesem Grund haben wir bisher keine Strategien für einen adäquaten Umgang entwickelt – Stichwort Datenschutz und Privatsphäre. Die Beobachtungen durch Big Data können gespeichert und korreliert werden. Weiterhin sind Schlussfolgerungen über unser zukünftiges Verhalten möglich, die womöglich sogar zutreffender sind als unsere Selbsteinschätzung. Darin liegt für mich die gesamtgesellschaftliche Relevanz. Gegen eine Beobachtung, die man vermutet, kann man Strategien entwickeln. Aber gegen eine Beobachtung, die so allumfassend ist, kann man sich nicht wehren. Wie viele gesellschaftliche Entwicklungen ist das Phänomen „Big Data“ äußerst ambivalent.

Im Moment geistern viele Beispiele dafür durch die Forschungsliteratur. Sehr bekannt ist die Anekdote des Vaters in den USA, der sich bei einer Supermarktkette darüber beschwert, dass seine minderjährige Tochter Werbung für Schwangerschafts- und Babyprodukte erhält. Es stellt sich heraus, dass die Supermarktkette Target einen Algorithmus entwickelt hat, der aufgrund der Daten früherer und aktueller Einkäufe die Wahrscheinlichkeit der Schwangerschaft bei einer Kundin errechnen kann. Über den Umweg des Supermarkts erfuhr der Vater so von der tatsächlichen Schwangerschaft seiner Tochter.

Big Data als Trumpf der Wiederwahlkampagne von Barack Obama


Ein Befürworter dieser “behavioristischen Revolution” ist der Alex Pentland, Professor des MIT-Media Lab. In seinem 2014 erschienenen Buch “Social Physics - how good Ideas spread” legt er die Prämissen seiner Forschung zugrunde: In dutzenden Studien hat Pentland erforscht, wie Menschen interagieren– und wie sich ihr Verhalten am besten beeinflussen lässt. Als Grundlage dient ihm Big Data. Wie sind seine Thesen zu bewerten?

Adolf: Ironischerweise möchte Pentland mit dem Begriff “Social Physics” diese Möglichkeiten programmatisch darlegen und fällt genau in die Falle, die schon die “Soziale Physik” der frühen Soziologie diskreditiert hat. Jeder, der einen Einführungskurs für Soziologie belegt hat, weiß, dass nicht Pentland den Begriff erfand, sondern Auguste Comte vor der Institutionalisierung “Soziale Physik” für die heutige Soziologie wollte.

Die Idee der “Sozialen Physik” ist umfassend kritisiert worden und zwar sowohl aus einem wissenstheoretischen als auch aus einem normativen Argument heraus:
Es ist erstens ein Fehlschluss, dass die Macht der praktischen Erkenntnis darin liegt, dass wir möglichst viel Aspekte eines Phänomens kennen, denn die Beschreibung ermöglicht keine Aussage über Möglichkeiten der Steuerung.
Zweitens existieren in einer Gesellschaft, in der alle alles über alle wissen, vielleicht effektivere Formen der sozialen Steuerung und des “Social Engineering”, aber wir leben in einer Dystopie. Diese Form der Gesellschaftssteuerung unterminiert sich selbst.

Gerahmt durch die Begriffe “Digitalisierung” als technologischer Aspekt und “Informationalisierung” als Beschreibung der ideologisch-kulturellen Entwicklung hin zu einem “geleiteten Menschen” wird die Problematik von Big Data noch einmal viel greifbarer. Wenn sich beide Entwicklungen kreuzen und Strategien der tatsächlichen Umsetzung entstehen, dann haben wir eine große gesellschaftspolitische Fragestellung, die bislang nicht bearbeitet wird.

Zusammengefasst: Erstens ist es nicht möglich, Gesellschaft wie von Pentland gewünscht zu steuern genauso wenig, wie zu wissen, wer diese Informationspotentiale für welche Zwecke verwendet. Zweitens kann dies entweder subversiv unterwandert oder von großen Institutionen - insbesondere aus der Wirtschaft - verwendet werden. Drittens ist die Theorie grundständig fehlerhaft.

Kuchen, Säulen und bunte Linien kann jeder. Aber wie visualisiert man eigentlich heute Daten, wenn sich komplexe Netzwerkstrukturen immer weiter ausbreiten? Mittlerweile werden Daten dreidimensional am Rechner simuliert und in Echtzeit zu aufwendigen Kompositionen modelliert. Im "Idaho Virtualization Laboratory" werden Daten sogar völlig greifbar gemacht. Mit dutzenden Kameras, Computern, Lichtwürfeln und beweglichen Lasern werden die Datenstrukturen in den Raum projiziert - und damit zu unvergesslichen Ereignis für die Datenkrake in uns.
Kuchen, Säulen und bunte Linien kann jeder. Aber wie visualisiert man eigentlich heute Daten, wenn sich komplexe Netzwerkstrukturen immer weiter ausbreiten? Mittlerweile werden Daten dreidimensional am Rechner simuliert und in Echtzeit zu aufwendigen Kompositionen modelliert. Im "Idaho Virtualization Laboratory" werden Daten sogar völlig greifbar gemacht. Mit dutzenden Kameras, Computern, Lichtwürfeln und beweglichen Lasern werden die Datenstrukturen in den Raum projiziert - und damit zu unvergesslichen Ereignis für die Datenkrake in uns.

Der Jurist Cass Sunstein plädiert in seinem einflussreichen Buch “Nudge” (Schupser) aus den Möglichkeiten der Informationalisierung, wie sie es nennen, für einen “libertären Paternalismus”, durch den Verhalten durch Incentives in die richtige Richtung “gestupst” werden soll. Nicht nur Obama auch die Bundesregierung hat sich Anfang August 2014 dazu entschieden, diesen Ansatz zu verfolgen. Was genau verbirgt sich hinter der Methode “Nudging”?

Adolf: Es gibt erste Anwendungen und die sind wirklich problematisch. Aktuell werden etwa KfZ-Versicherungen angeboten: wer sich per Telematik in seinem Fahrverhalten überwachen lässt, zahlt weniger für seine Autoversicherung. So tauscht man seine informationelle Autonomie gegen wirtschaftlichen Vorteil. Das ist vor allem attraktiv für Menschen, die sich sonst schwer eine KFZ-Versicherung leisten können. Das heißt, überwacht werden genau die gesellschaftlichen Gruppen, die ohnehin schon benachteiligt sind. Und seit kurzem bietet die Generali an, im Tausch gegen eine elektronische Kontrolle von Fitness, Ernährung und Lebensstil eine günstigere Krankenversicherung abzuschließen. Es gibt dann einen Score für einen hinreichend guten Lebenswandel. Ich halte das für eine extrem bedenkliche Entwicklung, die das Versicherungsmodell einer Solidargemeinschaft unterminiert. Und: was heute noch freiwillig ist, kann morgen zur Verpflichtung werden, insbesondere wenn Politik und Wirtschaft merken, dass sich gegen solche Modelle kaum Widerstand regt. Die durch die Individualisierung sowieso schon getriebene “Entsolidarisierungssticheleien” verdichten sich zu dem Bild einer durchdeklinierten technischen Gesellschaft, in der wir immer alle einzeln für alles verantwortlich sind, aber an den Strukturen dieser Ideologie alleine nicht rütteln können.

Wo kann man sich über „Big Data“ informieren?


Wie können wir mit dieser neuen Situation umgehen?

Adolf: In den nächsten Jahren gilt es, Kulturtechniken zu entwickeln, die es uns ermöglichen, mit der vollkommen veränderten Situation umzugehen. Das wird momentan heiß diskutiert. Manche sagen: „Der Zug ist abgefahren. Wir leben in einer „Post-Privacy“-Gesellschaft.“ Es ist wirklich schwer, heute seine Daten zu sichern. Wenn wir mit Kreditkarte zahlen, das Smartphone benutzen, intelligente Stromzähler benutzen oder auf Sozialen Medien surfen, bezahlen wir mit unseren Daten, vor allem bei anscheinend kostenfreien Diensten. Wir geben die Kontrolle preis, was wir konsumieren. Das grundlegende Problem besteht darin: Es ist wahnsinnig schwer, sich nicht datentechnisch zu exponieren, wenn man an unserer zeitgenössischen Gesellschaft teilnehmen will. Es ist aber möglich, sich in Form von Cultural oder Computational Hacking bewusst gegen bestimmte Dienste zu entscheiden. Konkret heißt das: keine Daten preisgeben, alternative Services benutzen und die eigene Kommunikation verschlüsseln. Außerdem ist meiner Meinung nach eine wirklich liberale Gegenbewegung zum libertären Paternalismus nötig. Auch wissen wir nicht, wie viel unsere Daten tatsächlich wert sind.

Titelbild: PublicDomainPictures / pixabay.com (CC0 Public Domain)

Bilder im Text: Ars Electronica / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)

Idaho National Laboratory / flickr.com (CC BY 2.0)


Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm und Alina Zimmermann

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