Gegenwartskultur

Überleben: Signatur der Gegenwart

von Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht | Zeppelin Universität
23.04.2014
Vielleicht ist ja schon das bloße Überleben eine Vorstellung vom Leben, deren verdeckter utopischer Anspruch uns grundsätzlich überfordert.

Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Gastprofessor für Literaturwissenschaften
 
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    Zur Person
    Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht

    Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. 

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Auch der Tod hat seine Geschichte. Das gilt bisher noch nicht für den Tod als die dem menschlichen Leben – wie dem Leben in jeder biologischen Gattung – gesetzte Grenze, auch wenn die machtvolle Verschiebung des durchschnittlichen Sterbealters über die vergangenen Jahrzehnte Stimmen geweckt hat, die dazu aufrufen, den Tod nicht mehr als unumgänglich hinzunehmen. Geschichte aber hat der Tod schon immer auf Grund der möglicherweise nur den Menschen gegebenen Möglichkeit gehabt, ihn in der Imagination als individuelles oder kollektives Ende vorwegzunehmen und sich auf die dabei entstehenden Visionen einzustellen. Zu dieser „Geschichte des Todes“ ist eine mittlerweile von vielen Historikern anerkannte These entstanden, nach der immer dann ein kollektiver Blick auf den Tod dominiert, wenn er als Übergang „zwischen“ dem irdischen und einem anderen, transzendenten Leben gesehen wird, während an den als absolute Grenze erfahrenen Tod, den Tod „im“ Leben ohne Transzendenz, eher eine individuelle Sicht gebunden ist.

"Noch vor wenigen Jahren wohl hätte eine so gravierende Hirnverletzung, wie sie Schumacher vor drei Monaten erlitt, keinerlei Hoffnung auf Heilung gelassen"
"Noch vor wenigen Jahren wohl hätte eine so gravierende Hirnverletzung, wie sie Schumacher vor drei Monaten erlitt, keinerlei Hoffnung auf Heilung gelassen"

Spuren dieser beiden grundsätzlichen Formen des Verhältnisses zum Tod lassen sich – durchaus ungleich verteilt – in vielen Epochen der verschiedenen Kulturen entdecken. Doch für die inzwischen zur „globalen“ Lebensnorm gewordene westliche Tradition markiert die Zeit um 1900 einen besonders dramatischen Einschnitt. Seit jenen Jahren galt es in vielen Gesellschaften – mit lange wachsender Tendenz – nicht mehr als ausgemacht, dass auf das Erdenleben ein Leben in anderen Sphären folgen würde, was sehr bald zu einer deutlichen Faszination durch den individuell perspektivierten „Tod im Leben“, durch den Tod als absolute Grenze führte. Einige Bücher, die unter gebildeten Lesern damals weltweit erfolgreich waren, zum Beispiel Miguel de Unamunos „Del sentimiento trágico de la vida“ (1912) oder Martin Heideggers „Sein und Zeit“ (1927), belegen jene geschichtliche Bewegung, indem sie der Gegenwart des Todes (aus je anderen Gründen) eine zentrale Stellung innerhalb der menschlichen Existenz einräumen.

Zugleich erfreuten sich im frühen zwanzigsten Jahrhundert solche Sportarten besonderer Beliebtheit, deren Regeln eine Konfrontation individueller Athleten mit der unmittelbaren Bedrohung durch den Tod inszenieren, wie zum Beispiel Bergsteigen, Boxen, der Stierkampf und auch die über verschiedene Distanzen führenden Langläufe. Seither freilich hat sich die Geschichte des Todes nicht so eindimensional auf der Ebene der Individualität weiterentwickelt, wie man das einst erwartete. Um die Tendenz – halb ironisch – im Bild eines Lauf-Wettbewerbs zu beschreiben: der Tod als Übergang und die ihn begleitende kollektive Perspektive haben in den vergangenen Jahrzehnten wieder „aufgeholt“, ohne den Tod im Leben und den individuellen Blick ganz an den Rand zu drängen.

Jeder Tod erzählt seine Geschichte: Im japanischen Fukushima sind es tausende Geschichte, die erzählt werden müssen. Die Kleinstadt ist zu einem Symbol unserer Zeit geworden.
Jeder Tod erzählt seine Geschichte: Im japanischen Fukushima sind es tausende Geschichte, die erzählt werden müssen. Die Kleinstadt ist zu einem Symbol unserer Zeit geworden.

Vielleicht gehört es zur historischen Signatur des Todes in der Gegenwart unseres frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts, dass diese beiden Formen der Erfahrung und der Reflexion sich heute ohne deutliche Spannung oder Konkurrenz gegenüberstehen. Wenn wir uns auf zwei Situationen konzentrieren, welche derzeit weltweit die Öffentlichkeit faszinieren, auf den Kampf der Mediziner um das Leben des großen Formel-I-Rennfahrers Michael Schumacher und auf das Verschwinden von Malaysian Air Flug 370 aus der Reichweite der institutionalisierten technischen Beobachtung, dann mag ein weiteres Element in den Vordergrund treten, das die beiden gegenwärtigen Erfahrungsformen des Todes verbindet.

Noch vor wenigen Jahren wohl hätte eine so gravierende Hirnverletzung, wie sie Schumacher vor drei Monaten erlitt, keinerlei Hoffnung auf Heilung gelassen. Neben den fortgeschrittensten chirurgischen Methoden eröffnet aber neuerdings eine temporäre Herabsetzung der Körpertemperatur genau diese Perspektive. Aus dem bloßen, rein vegetativen und eben perspektivenlosen Überleben ist – in Europa nicht allein für Patienten mit schier unbegrenzten finanziellen Ressourcen – ein langfristiges Über-Leben als potentieller Heilungsprozess geworden. Medizinische Fortschritte mit dieser Funktion nähren in der distanzierten Beobachter-Sicht aber auch eine ganz andere, eher halb-bewusste Hoffnung. Das ist Hoffnung, dass sich die direkte, individuell-„jemeinige“ (wie Heidegger sagte) Konfrontation mit dem Tod als unvermeidlichem und absolutem Ende in eine vage bleibende, aber zugleich immer entfernter erscheinende Zukunft verschieben könne. Anders und etwas schärfer formuliert: neue, von der Technik erschlossene Modalitäten des Überlebens können wie Schritte auf dem Weg zu individueller Unsterblichkeit und säkularer Ewigkeit erlebt werden.

Wie geht es weiter nach dem Tod? Das "Dead End" ist zu einem kultigen Symbol geworden. Gleichzeitig warnt es vor dem Lebensende: Groß. Gelb. Gefärlich?
Wie geht es weiter nach dem Tod? Das "Dead End" ist zu einem kultigen Symbol geworden. Gleichzeitig warnt es vor dem Lebensende: Groß. Gelb. Gefärlich?

Der entscheidende Assoziationshorizont für den von seiner vorausberechneten Route abgekommenen Flug der Malaysian Air hat sich schon seit den so genannten „Materialschlachten“ des Ersten Weltkriegs entwickelt. Er ist beherrscht von den Furcht, dass technologische Systeme, welche das Leben der Menschheit immer spürbarer umgeben, durchdringen und auch ermöglichen, zu ihrer Auslöschung benutzt werden und im Falle von Funktionsstörungen auch zu ihrer von niemandem beabsichtigten Auslöschung führen könnten. Aus den religiösen Modellierungen vom „Ende der Welt“ ist eine Furcht vor den potentiellen Folgen der menschengeschaffenen Technik geworden, welche mit der Furcht von ebenfalls Technologie-bedingten, aber deutlicher ökologischen Visionen wie „global warming“, fortschreitender demographischer Expansion oder der Erschöpfung der lebensnotwendigen Rohstoffe konvergiert.

Noch nie wohl ist das Leben der Menschheit so deutlich und in so vielfältigen Perspektiven wie heute als ein Kampf um Überleben erfahren worden. In ihrer Konvergenz aber werfen die neuen individuellen Überlebens-Hoffnungen und die neuen kollektiven Überlebens-Bedrohungen Fragen auf, wie sie bis heute nur selten mit einer ihrer existentiellen Bedeutung entsprechenden Deutlichkeit formuliert worden sind. So sehr sind wir vom Über-Leben und seinen Herausforderungen auf kollektiver wie individueller Ebene fasziniert, dass die Frage nach dem guten Leben, die Frage nach jenen Formen der Existenz verschwunden zu sein scheint, welche alle dem Überleben geltenden Bemühungen doch eigentlich erst lohnend machen können. Derzeit wollen wir offenbar deshalb – oder jedenfalls: deshalb vor allem — überleben, weil wir uns den Gedanken an ein Ende der Menschheit oder, was tatsächlich die noch größere Herausforderung ist, den „jemeinigen“ Gedanken an den eigenen Tod ersparen wollen. 


„Ethik“, so wie sie heute von Philosophen entwickelt und von erstaunlich breiten Gesellschaftsschichten mit obsessiver Konsequenz kultiviert wird, zielt bloß auf Regelwerke zur Vermeidung von Spannungen, Konflikten und Frustrationen. Kühne Visionen des guten Lebens hingegen – wie zum Beispiel der marxistische Traum von einer „klassenlosen“ sozialen Welt oder der romantische Traum von der Rückkehr zur „Authentizität“ einer idealen Vergangenheit – gehören nicht mehr zu unserer Gegenwart und ihrer Ethik. Erstaunlicherweise arbeiten wir nicht einmal an der konkreteren und realistischeren Vision eines guten Lebens unter Bedingungen, welche das Überleben der Menschheit auf Dauer stellen könnten. Immer geht es bloß um die Vermeidung oder um das Herausschieben des Endes, nie um die Qualität des Lebens davor.

Nicht nur im Fall Schumacher oder Malaysian Airlines - der Tod ist allgegenwärtig. Und so holt er einen selbst im scheinbaren Paradies schneller eins als gedacht.
Nicht nur im Fall Schumacher oder Malaysian Airlines - der Tod ist allgegenwärtig. Und so holt er einen selbst im scheinbaren Paradies schneller eins als gedacht.

Hat uns die Überlebens-Obsession blind gemacht für jene Sehnsucht nach Glück am Horizont des physischen Lebens, welche erst das Über-Leben lebens-wert macht? Könnte zum Beispiel ein Glücks-Potential in der elektronischen Technologie liegen, ein Potential, das nicht einfach nur zu immer größerer Abhängigkeit führt? Von einer anderen Blindheit schrieb Martin Heidegger 1947 in seinem berühmten „Humanismusbrief“. Das (seither nur immer intensiver gewordene) Betonen der Frage nach den notwendigen Bedingungen vor allem des kollektiven, aber auch des individuellen Überlebens scheint die Denk-Möglichkeit – ja die Wahrscheinlichkeit – einzuklammern, dass mit dieser Frage das Potential der menschlichen Intelligenz überfordert sein könnten. Selbstverständlich kann es solche Fragen geben, deren Beantwortung für das Überleben der Menschheit notwendig wäre und deren Komplexität dennoch den menschlichen Intellekt überfordert. Hingegen davon auszugehen, dass es zwischen dem Potential der menschlichen Intelligenz und den zentralen Herausforderungen unserer Zukunft eine Symmetriebeziehung geben müsse, wirkt heute wie ein Restbestand aus längst säkularisierten religiösen Kosmologien.


Vielleicht ist ja schon das bloße Überleben eine Vorstellung vom Leben, deren verdeckter utopischer Anspruch uns grundsätzlich überfordert.


Der Artikel ist im FAZ-Blog „Digital/Pausen“ von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen.


Titelbild: Ben McLeod / flickr.com

Bilder im Text: BacardiLimited, jpellgen, Moosealope, ABC / jeweils flickr.com

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