Flüchtlingskrise

Was bedeuten die Migrationsströme für Europa?

von Prof. Dr. Helmut Willke | Zeppelin Universität
16.09.2015
Auch wenn Krisen in der Regel keine guten Lehrmeister sind, so entfaltet die Migrationskrise doch die Chance, auf allen Ebenen der Politik – mit Verstärkung durch vorbildliches Bürgerhandeln – Impulse zu setzen, die ein erstarrtes Politiksystem in die erforderlichen Wallungen versetzt.

Prof. Dr. Helmut Willke
Lehrstuhl für Global Governance
 
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    Prof. Dr. Helmut Willke

    Prof. Dr. Helmut Willke ist Inhaber des ZU-Lehrstuhls für Global Governance und hat zudem Gastprofessuren in Washington, D.C., Genf und Wien inne. Der studierte Rechtswissenschaftler und Jurist lehrte zuvor in Bielefeld und wurde 1994 mit dem Leibnizpreis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet. Willke forscht schwerpunktmäßig in den Bereichen globale Netzwerke und Steuerungsregime, sowie System- und Staatstheorie. 

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Nach Jahrzehnten verfehlter und gescheiterter Entwicklungspolitik verständigten sich die führenden Länder des United Nations Development Programme (UNDP) im Jahr 2000 auf acht „Millenium Development Goals“, die im Kern bis 2015 weltweit extreme Armut reduzieren sollten. Keines der Ziele wurde erreicht, und nun sollen in diesem September neue „Sustainable Development Goals“ beschlossen werden. Tatsächlich greifen die westlichen Entwicklungsstrategien insbesondere in Afrika nur äußerst begrenzt, während gleichzeitig Korruption, Ausbeutung, Abhängigkeit und „brain drain“ Afrika als Kontinent belasten.


Ein besonders dramatischer Aspekt dieses Scheiterns ist das Aufbrechen massiver innenpolitischer Konflikte und Bürgerkriege in Ländern wie Syrien, Libyen und Ägypten. Wenn Millionen von Syrern zur Flucht gezwungen werden und acht Millionen unter Kriegsbedingungen leiden, wer will sich dann noch über massive Migrationsströme wundern?


Die UN, die EU und die großen Institutionen der Entwicklungspolitik haben versagt, und nun schlagen die Folgen auf die entwickelten Länder und auf Europa zurück.

Das Politikversagen der EU betrifft allerdings nicht nur die Entwicklungspolitik nach außen, sondern insbesondere auch die Entwicklungspolitik nach innen – in Richtung auf eine krisenfeste europäische Identität, Solidarität und Legalität. Die europäische Verfassung erweist sich als „Schönwetter“-Konstruktion, die auf massive Krisen nicht eingestellt ist. Staatsschuldenkrise, Wirtschaftskrise, Eurokrise und die griechische Tragödie verpesten den EU-Politikprozess und treiben die Mitgliedstaaten der EU in die Verfolgung bornierter Eigeninteressen auf Kosten gemeinsamer Lösungen. 

Bahnhof Keleti, Budapest. 3. September 2015: Flüchtlinge schlafen im Atrium des Bahnhofsvorplatzes.
Bahnhof Keleti, Budapest. 3. September 2015: Flüchtlinge schlafen im Atrium des Bahnhofsvorplatzes.

Dieses Muster setzt sich im Umgang mit den Migrationsströmen verstärkt fort und beginnt, die Idee und die Realität einer gemeinsamen politischen Kultur in der EU zu gefährden. Wenn jedes Land – vielleicht mit Ausnahme von Deutschland und Schweden – versucht, nur die eigene Haut zu retten und Migranten und Asylanten entweder auszusperren oder durchzuschleusen, dann erweist sich europäische Solidarität als Chimäre. Wenn nun auch noch Großbritannien mit Austritt droht und Ungarn europäische Werte und europäisches Recht folgenlos verletzt, dann ist nicht mehr ausgeschlossen, dass die EU als Ganzes Schaden nimmt.

Die deutsche Politik hat noch nicht klar genug verstanden und darauf reagiert, dass die demographische Entwicklung Deutschland zu einem Einwanderungsland macht. Auch hier fehlen der Politik eine strategische Perspektive und die Fähigkeit, angemessen schnell zu lernen. Demgegenüber haben zahlreiche Bürgerinnen und Bürger an Bahnhöfen, in Übergangsheimen, Migrantenlagern und Wohnanlagen für Migranten und Asylanten eine grandiose Hilfsbereitschaft und Willkommenskultur gezeigt und damit nicht nur menschlich vorbildlich gehandelt, sondern auch die Politik unter Zugzwang gesetzt.

Anfang September 2015: Der "Train of Hope" fährt in den Frankfurter Hauptbahnhof ein. Dutzende Freiwillige sind vor Ort, um zu helfen und die syrischen Flüchtlinge willkommen zu heißen.
Anfang September 2015: Der "Train of Hope" fährt in den Frankfurter Hauptbahnhof ein. Dutzende Freiwillige sind vor Ort, um zu helfen und die syrischen Flüchtlinge willkommen zu heißen.

Nun entdeckt sogar die Wirtschaft, dass Migranten eine wertvolle Ressource darstellen, zumal viele von ihnen besser ausgebildet sind als der deutsche Durchschnitt. Hier deutet sich demnach – „bottom up“ und eben nicht „von oben“ verfügt – ein Umdenken in der Integrationspolitik an, welches dringend erforderlich erscheint und auf allen Ebenen der Politik Schule machen sollte.

Ein vergleichbares Umdenken ist sowohl in der europäischen Gemeinschaftspolitik wie auch in der globalen Entwicklungspolitik eine vorrangige gegenwärtige und strategische Aufgabe. Auch wenn Krisen in der Regel keine guten Lehrmeister sind, so entfaltet die Migrationskrise doch die Chance, auf allen Ebenen der Politik – mit Verstärkung durch vorbildliches Bürgerhandeln – Impulse zu setzen, die ein erstarrtes Politiksystem in die erforderlichen Wallungen versetzt.


Titelbild: Michael Gubi / flickr.com (CC BY-NC 2.0)

Bilder im Text: Michael Gubi / flickr.com (CC BY-NC 2.0); Franz Ferdinand Photography / www.flickr.com (CC BY-NC 2.0)

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Leserbrief
Ergänzung: Die Krise Arabiens und des Islam
Dr.med. Eckhart Sies, Hamburg | 20.09.2015

Dem Standpunkt Prof. Wilkes pflichte ich bei.
Notwendige Ergänzung ist allerdings der Focus auf die politische und religiöse Krise Arabiens und der Türkei sowie das Wirken der USA in Nahost seit über 30 Jahren. Russland spielt dabei eine geringere, jedoch auch bedeutende Rolle.
Für die Aufnahme der Flüchtlinge wären zuerst die reichen Golf-Emirate sowie Saudiarabien zuständig! Wegen deren voraufklärerischer Auffassung vom Islam (Scharia etc.) und gleichzeitig Millionen Fremdarbeitern aus Asien und Afrika finden die Flüchtlinge aus Syriens und dem Irak dort keine Aufnahme. Sicher hat die EU und Deutschland diese Staaten durch Handel und Waffenlieferungen unterstützt und insofern eine Mitverantwortung für das Abschotten dieser superreichen autoritären Öl-Staaten. Dieses als notwendige Ergänzung des Blickwinkels zu der Sichtweise allein auf Europa in Bezug auf den Umgang mit den Kriegsflüchtlingen, die grosses Leid durchmachen. Hinzukommt die informatorische Vernetzung durch die elektronischen Medien, welche Flüchtlingen der Weltkrieg II-Periode nicht zur Verfügung stand. Auch ein solches Schlepperwesen hat es zu früheren Zeiten nicht gegeben.


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