Demokratieforschung

Wohin steuert die Demokratie?

Die nationale Politik ist überfordert und muss sich mit Problemen befassen, deren Reichweite und Ursachenkonstellationen weit über ihre Einflussmöglichkeiten hinausgehen.

Prof. Dr. Helmut Wilke
Inhaber des Lehrstuhls für Global Governance
 
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    Zur Person
    Prof.Dr. Helmut Wilke

    Professor Dr. Helmut Willke ist Inhaber des ZU-Lehrstuhls für Global Governance und hat zudem Gastprofessuren in Washington, D.C., Genf und Wien inne. Der studierte Rechtswissenschaftler und Jurist lehrte zuvor in Bielefeld und wurde 1994 mit dem Leibnizpreis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet. Willke forscht schwerpunktmäßig in den Bereichen globale Netzwerke und Steuerungsregime, sowie System- und Staatstheorie.

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    Factbox
    Buchtipp

    „Demokratie in Zeiten der Konfusion“
    Helmut Willke
    Taschenbuch: 175 Seiten
    Verlag: Suhrkamp; Auflage: 2014 (10. November 2014)
    ISBN-10: 3518297317
    ISBN-13: 978-3518297315
    Preis: etwa 13,99 Euro

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Buchtipp: „Demokratie in Zeiten der Konfusion“


Ich bin verwirrt. Wieso leben wir in Zeiten der Konfusion?


Prof Dr Helmut Willke: In Zeiten von „Je suis Charlie“ liegt das ja auf der Hand: Es herrscht eine globale Konfusion über Werte, Prioritäten, Ethiken und Weltentwürfe. Denn Konfusion heißt Zusammenfließen und Verwirrung – durch globale Interdependenzen fließen die unterschiedlichsten Strömungen zusammen und stiften eine heillose Verwirrung in den Köpfen und in den Orientierungen der Menschen.

07. Januar. Wöchentliche Redaktionssitzung des Satire-Magazin Charlie Hebdo in der Rue Nicolas-Appert. Elf Tote. Ein Aufschrei in der Gesellschaft. 
09. Januar. Die Attentäter sind tot. Sie wollten sterben wie "Märtyrer".
10. Januar. 1,5 Millionen Franzosen sind auf der Straße. Auch Staatschefs zeigen Geschlossenheit, führen augenscheinlich die Massen an. Auch wenn es nur die Perspektive macht, ein machtvolles Symbol.
07. Januar. Wöchentliche Redaktionssitzung des Satire-Magazin Charlie Hebdo in der Rue Nicolas-Appert. Elf Tote. Ein Aufschrei in der Gesellschaft.
09. Januar. Die Attentäter sind tot. Sie wollten sterben wie "Märtyrer".
10. Januar. 1,5 Millionen Franzosen sind auf der Straße. Auch Staatschefs zeigen Geschlossenheit, führen augenscheinlich die Massen an. Auch wenn es nur die Perspektive macht, ein machtvolles Symbol.

Sie sprechen in Ihrem Buch zusätzlich von der Konfusion der Regime, der Rationalitäten und der Risiken. Können Sie das näher erläutern?


Willke: Die globale Dynamik wirft politische, ökonomische, kulturelle und soziale Regime, also Steuerungsformen, durcheinander, so dass unvereinbare Logiken und Rationalitäten aufeinanderstoßen und daraus überraschende Risiken entstehen. Das schließt die konfundierenden Wirkungen des Internets ebenso ein wie eine maßlose und illusionäre Kritik an der Demokratie als politische Steuerungsform.


Warum bringen diese Konfusionen die Demokratie als politische Steuerungsform in Verlegenheit? Bedrohen sie sie gar?


Willke: Zum Beispiel wird die westliche Demokratie an der Steuerungsleistung und der Wirtschaftsdynamik des chinesischen Modells gemessen. Dies bringt zwar die Schwächen der Demokratie ins Relief, aber es unterschlägt die völlig unterschiedlichen Ausgangspunkte und Kontextbedingungen der beiden politischen Steuerungsformen. Eine ebenso voraussetzungslose wie ahnungslose Kritik an der Demokratie wie sie etwa „Pegida“ formuliert, bedroht in der Tat die Demokratie: Weil forcierte Vereinfachungen der realen Komplexität gesellschaftlicher Verhältnisse nicht angemessen sind und weil populistische Vereinfachungen Versprechen machen, die sie nicht einhalten können.


Wie hat die Politik bisher auf die in einer komplexen Welt zunehmende kognitive Überforderung reagiert?


Willke: Schon lange reagiert die Politik mit dem Aufbau einer verzweigten Infrastruktur für die Beschaffung von Expertise: Räte, Kommissionen, Beratungsfirmen, Fachgremien oder Expertenanhörungen gehören längst zum politischen Geschäft. Das Problem dabei ist, dass dies alles subkutan und im Verborgenen passiert. Alle diese Aktivitäten, die notwendig sind, müssen ans demokratische Licht gebracht und mit demokratischer Legitimation ausgestattet werden. Zugleich gibt es seit langem spezialisierte Institutionen für besonders schwierige Problemfelder, etwa die Zentralbanken für die Geldpolitik oder die Verfassungsgerichte für die Normenkontrolle. Die demokratisch legitimierte Auslagerung von bestimmten und definierten Problemkomplexen wäre also gar nichts Neues.


Mit den fundamentalen Transformationen – Globalisierung und Wissensgesellschaft – ist die Entstehung einer ganzen Reihe von neuen globalen Steuerungsregimen wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder die Welthandelsorganisation (WTO) verbunden, die ihrerseits umfangreiche politische Kompetenzen wahrnehmen. Was bedeutet das für den Entscheidungsspielraum und die Legitimität nationalstaatlich organisierter Demokratien?


Willke: Tatsächlich haben wir es hier mit einem zentralen Dilemma der nationalstaatlichen Politik zu tun. Die großen Probleme – Terror, Klimawandel, Pandemien, Migration, Energie oder Armut – halten sich nicht an nationalstaatliche Grenzen, aber die nationalstaatlich organisierten Politiksysteme sind die einzigen handlungsfähigen Akteure des Problemmanagements. Die nationale Politik ist überfordert und muss sich mit Problemen befassen, deren Reichweite und Ursachenkonstellationen weit über ihre Einflussmöglichkeiten hinausgehen. Daher ist nationalstaatliche Politik darauf angewiesen, in schwierigen und langsamen internationalen Kooperationsprozessen – G7, G20 sowie transnationale Institutionen – Problemlösungen zu suchen. Dabei stehen nationale Egoismen und Sonderinteressen dem Schutz globaler Kollektivgüter gegenüber und machen Lösungen oder auch nur Problemmanagement unwahrscheinlich.

Ebola. In Westafrika - wohl über einen Flughund übertragen - ausgebrochen, verbreitete die Krankheit Angst und Schrecken. Bis heute sind offiziellen Zahlen zufolge über 8.400 Menschen gestorben, 71% beträgt die Mortalitätsrate. An Malaria starben 2014 über 1 Million Menschen. Trotzdem schaffte Ebola es wie keine andere Krankheit, Mängel im Gesundheitsbereich aufzuzeigen. Aber auch die Gegenwehr gegenüber westlicher Medizin. Die Tatsache, dass lediglich an "lukrativen" Krankheiten geforscht wird. Hat der Westen versagt, indem er den Armen nicht rechtzeitig geholfen hat?
Ebola. In Westafrika - wohl über einen Flughund übertragen - ausgebrochen, verbreitete die Krankheit Angst und Schrecken. Bis heute sind offiziellen Zahlen zufolge über 8.400 Menschen gestorben, 71% beträgt die Mortalitätsrate. An Malaria starben 2014 über 1 Million Menschen. Trotzdem schaffte Ebola es wie keine andere Krankheit, Mängel im Gesundheitsbereich aufzuzeigen. Aber auch die Gegenwehr gegenüber westlicher Medizin. Die Tatsache, dass lediglich an "lukrativen" Krankheiten geforscht wird. Hat der Westen versagt, indem er den Armen nicht rechtzeitig geholfen hat?

Was resultiert daraus für den wahlberechtigten Bürger und dessen Partizipation an politischen Entscheidungen?


Willke: Wahlbeteiligung und Interesse an Politik nehmen seit langem ab, weil die meisten Bürger von den meisten komplexen und globalen Problemen überfordert sind. Die Forderung nach Mitsprache aller an allen Entscheidungen ist daher kontraproduktiv. Erforderlich scheint mir zu sein, Wahlentscheidungen und Entscheidungsberechtigung stärker an Kompetenzen zu binden. Dort, wo Bürger kompetent und interessiert sind – etwa in NGOs, Interessengruppen, sozialen Bewegungen oder Fachgemeinschaften –, dort sind sie auch engagiert und scheuen nicht die Mühen politischer Beteiligung.


Wie kann Partizipation unter den Bedingungen von Globalisierung und Wissensgesellschaft neu organisiert werden?


Willke: Durch eine „Dezentrierung“ der Demokratie. Damit ist gemeint, dass neben dem Souverän – dem Parlament – und durch das Parlament delegiert und legitimiert, und neben den bereits bestehenden Delegationen etwa in Form der Zentralbanken oder der Verfassungsgerichte weitere große Problemkomplexe an autonome Regulierungsinstitutionen delegiert werden, um die Parlamente zu entlasten. In diesen Regulierungsinstitutionen sind nach Prinzipien des „cognitive variety“ der gesamte Sachverstand und die versammelte organisationale Expertise vertreten und nach demokratischen Prinzipien organisiert. Diese Prinzipien sind Legitimität, Transparenz, Partizipation, Rechenschaftspflicht und Effektivität. Hier entscheiden dann Fachleute nach Kriterien der Angemessenheit, Nachhaltigkeit und Wirksamkeit über Optionen, die eben nur Fachleute beurteilen können.


In Ihrem Buch gehen Sie auf die globale Finanzkrise und ihre politischen Folgen detailliert ein. Inwiefern hat die Krise und die sich daraus erwachsenden Wirtschafts- und Staatsschuldenkrisen Grenzen des geltenden Demokratiemodells aufgedeckt?


Willke: Demokratische Entscheidungsprozeduren sind von unerwartet hereinbrechenden globalen Krisen völlig überfordert. Allerdings liegt hier auch ein Politik- und Demokratieversagen vor, weil die Politik es versäumt hat, ihre Kompetenzkompetenz wirklich zu nutzen und das Finanz- und Bankensystem in ihre Schranken zu verweisen, und zwar bevor es zu einer ernsten Krise kommt. Auch das Krisenmanagement der großen Demokratien ist nach der Finanzkrise völlig unzureichend und von der mächtigen Finanzlobby massiv behindert, so dass auch sieben Jahre nach der Krise zum Beispiel keine wirklichen Maßnahmen gegen Finanzfirmen „too big to fail“ verabschiedet und wirksam geworden sind.


Wie lässt sich das Zusammenspiel von Demokratie und Kapitalismus fördern?


Willke: Durch eine demokratische politische Zähmung des Kapitalismus und durch eine wirksame Umverteilung von oben nach unten. Was der Ökonom Thomas Piketty beschreibt, ist ja eine wachsende Dominanz des Kapitalvermögens, so dass „Normalverdiener“ prinzipiell die Verlierer eines Kapitalismus sind, der die wirklich Reichen reicher und die Mittelschicht zu den Verlierern des Systems macht. Dass dies der Demokratie nicht förderlich ist, liegt auf der Hand. Absolut notwendig ist also die Wiederherstellung des Primats einer Politik, die dem Kapitalismus Grenzen setzt, ohne seine Stärken der Selbstorganisation und der eingebauten Innovativität zu zerstören.

Politikverdrossenheit. Ein immer größer werdendes Problemfeld -  mehr und mehr Jugendliche und junge Erwachsene gehen nicht mehr zur Wahl, interessieren sich nicht mehr für Politik, weil sie "ja sowieso nichts ändern können", "Politik sie ja nichts angehe". 94% der in einer Umfrage befragten Menschen sagen, "Leute wie ich haben sowieso keinen Einfluss darauf, was die Regierung tut".
Aber den ein oder anderen Kugelschreiber mitnehmen ohne zu wissen, wofür die Partei so wirklich steht? Kein Problem.
Politikverdrossenheit. Ein immer größer werdendes Problemfeld - mehr und mehr Jugendliche und junge Erwachsene gehen nicht mehr zur Wahl, interessieren sich nicht mehr für Politik, weil sie "ja sowieso nichts ändern können", "Politik sie ja nichts angehe". 94% der in einer Umfrage befragten Menschen sagen, "Leute wie ich haben sowieso keinen Einfluss darauf, was die Regierung tut".
Aber den ein oder anderen Kugelschreiber mitnehmen ohne zu wissen, wofür die Partei so wirklich steht? Kein Problem.

Diesbezüglich erwähnen Sie die Schaffung sogenannter „Zwischeneinrichtungen“ und „struktureller Kopplungen“. Was ist darunter zu verstehen?


Willke: Diese Zwischeneinrichtungen sind notwendig, weil die Funktionslogik von Demokratie und Kapitalismus sich diametral widersprechen. Demokratie setzt auf Gleichheit – eine Person, eine Stimme –, und Kapitalismus setzt auf Differenz: Unterschiede in Angeboten und Nachfrage treiben das System. Um Demokratie und Kapitalismus kompatibel zu machen, sind also Einrichtungen erforderlich, die diese scharfen Gegensätze in operationale Prozeduren abmildern: progressive Steuern, umverteilende Erbschaftssteuern, Begrenzungen von Marktmacht – vor allem von „too big to fail“ –, verstärkter Schutz der Kollektivgüter oder Förderung von Innovation und unternehmerischer Kompetenz. Vor allem aber geht es darum, der Belagerung einer nach wie vor nationalstaatlich organisierten Politik durch einen globalisierten Kapitalismus die Fähigkeit transnationaler politischer Kooperation entgegenzusetzen.


Wie kann Demokratie als Steuerungsmodus hochkomplexer Gesellschaften ihre Zukunftsfähigkeit bewahren?


Willke: Durch Strategiefähigkeit und Lernkompetenz.


Titelbild: Filippo Minelli / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)

Bilder im Text: "Je suis Charlie Strasbourg 7 janvier 2015

by Claude Truong-Ngoc / Wikimedia Commons - cc-by-sa-3.0 

Licensed under CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

UK Ministry of Defense / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0

Daniela Hartmann / flickr.com (CC BY-NC-SA 2.0)


Interview: Sebastian Paul

Redaktionelle Umsetzung: Maria Tzankow und Alina Zimmermann

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