10. Berlin Biennale

Keine Zeit für Helden

Auch die aktuelle Berlin Biennale bleibt Bestandteil einer globalen privilegierten Elitekultur, deren Codes sich längst nicht jedem Besucher erschließen. Daran ändert auch der Verzicht auf Helden und Wow-Effekte nichts, aber es macht die Sache doch immerhin erheblich sympathischer.

Prof. Dr. Karen van den Berg
Lehrstuhl für Kunsttheorie und Inszenatorische Praxis
 
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    Zur Person
    Prof. Dr. Karen van den Berg

    Professor Dr. Karen van den Berg hat den Lehrstuhl für Kulturtheorie und inszenatorische Praxis an der Zeppelin Universität inne. Sie studierte Kunstwissenschaft, Klassische Archäologie und Nordische Philologie in Saarbrücken und Basel, wo sie auch promovierte. Von 1993-2003 war sie Dozentin für Kunstwissenschaft am Studium fundamentale der Privaten Universität Witten/Herdecke. Seit 1988 realisiert sie als freie Ausstellungskuratorin zahlreiche Ausstellungsprojekte in öffentlichen Räumen und in Kunstinstitutionen – zuletzt mit den Ausstellungsreihen „Politics of Research“ und „Pari Mutuel“ im Flughafen Berlin Tempelhof.
    Ihre Forschungsschwerpunkte sind Theorie des Inszenierens und Ausstellens; Kunst und Öffentlichkeit; Kunstvermittlung und Politik des Zeigens; Kunst und Emotionen (insbesondere Kitsch und Schmerz); Rollenmodelle künstlerischen Handelns; Altern und künstlerische Alterswerke; Soziale Effekte von Bildungsarchitekturen.  

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Die aus Südafrika stammende Leiterin der Ausstellung Gabi Ngcobo sucht – wie sie selbst sagt – nach Wegen, Geschichte und die daraus erwachsenden Machtverhältnisse neu in den Blick zu nehmen: „Ich will die Konfiguration von Macht und Wissen neu denken. Ich interessiere mich dafür, wie mit Narrativen gearbeitet wird und wie Kunst sie herausfordern und aufbrechen kann“, schreibt sie. Gemeinsam mit ihrem fünfköpfigen Kuratoren-Team formuliert Ngcobo den Anspruch, untersuchen zu wollen, wie historische Narrative entstehen und wie die Kunst dabei helfen kann, einen neuen, weniger kanonisierten Blick auf Geschichte zu gewinnen – einen Blick, der weniger vergiftet und feindselig ist und subjektive und alternative Interpretationen zulässt. Diese Ansprüche klingen wenig provokativ. Geht es dabei – so kann man hier fragen – um mehr als die üblichen Lippenbekenntnisse einer globalen Kunstelite?


Auch wenn das durchgängig schwarze Kuratoren-Team die derzeitige geopolitische Lage als „Zustand einer kollektiven Psychose“ beschreibt, so treten die 46 eingeladenen Künstler doch überwiegend mit einer populärkulturellen Attitüde und einer gewissen Leichtigkeit auf. Tina Turners Hit „We Don't Need Another Hero“ aus dem Jahr 1985 – einst Titelsong des dystopischen Films „Mad Max – Jenseits der Donnerkuppel“ – ist das gleichermaßen einfache wie eingängige Motto der Schau. Und tatsächlich wird die Ausstellung, die sich auf drei Hauptausstellungsorte und zwei Nebenschauplätze in Berlin verteilt, diesem postheroischen Ansatz gerecht.

Mit dem Titel „We don’t need another hero“ versteht sich die 10. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst als Dialog mit Künstlern und anderen Beitragenden. Die Beteiligten setzen sich mit den anhaltenden Ängsten und Sorgen in der heutigen Zeit auseinander – Ängste, die durch die Missachtung komplexer Subjektivitäten vervielfacht werden – und denken und handeln in ihrer Auseinandersetzung über den Kunstkontext hinaus. Ausgehend von Europa, Deutschland und Berlin als einer Stadt, die mit der Welt im Dialog steht, stellt sich die 10. Berlin Biennale dem aktuell weitverbreiteten Zustand einer kollektiven Psychose. Mit dem Verweis auf Tina Turners Song „We Don’t Need Another Hero“ aus dem Jahr 1985 nehmen die Veranstalter Bezug auf eine Zeit unmittelbar vor großen geopolitischen Verschiebungen, die mit Regimewechseln und neuen historischen Protagonisten einhergingen. Die 10. Berlin Biennale bietet jedoch keine kohärente Interpretation von Geschichte oder Gegenwart. Wie der Song lehnt sie die Sehnsucht nach einer Heldenfigur ab. Demgegenüber erkundet die 10. Berlin Biennale das politische Potenzial von Strategien der Selbsterhaltung.
Mit dem Titel „We don’t need another hero“ versteht sich die 10. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst als Dialog mit Künstlern und anderen Beitragenden. Die Beteiligten setzen sich mit den anhaltenden Ängsten und Sorgen in der heutigen Zeit auseinander – Ängste, die durch die Missachtung komplexer Subjektivitäten vervielfacht werden – und denken und handeln in ihrer Auseinandersetzung über den Kunstkontext hinaus. Ausgehend von Europa, Deutschland und Berlin als einer Stadt, die mit der Welt im Dialog steht, stellt sich die 10. Berlin Biennale dem aktuell weitverbreiteten Zustand einer kollektiven Psychose. Mit dem Verweis auf Tina Turners Song „We Don’t Need Another Hero“ aus dem Jahr 1985 nehmen die Veranstalter Bezug auf eine Zeit unmittelbar vor großen geopolitischen Verschiebungen, die mit Regimewechseln und neuen historischen Protagonisten einhergingen. Die 10. Berlin Biennale bietet jedoch keine kohärente Interpretation von Geschichte oder Gegenwart. Wie der Song lehnt sie die Sehnsucht nach einer Heldenfigur ab. Demgegenüber erkundet die 10. Berlin Biennale das politische Potenzial von Strategien der Selbsterhaltung.

Noch vor dem Eingang zum Hauptausstellungsort in der Kunstakademie am Hanseatenweg erwartet die Besucher eine erste symbolträchtige künstliche Ruine, ein Folly, wie man es aus romantischen Landschaftsgärten kennt. Das halb schräg im Boden versunkene Architekturfragment wirkt hier seltsam vertraut und selbstverständlich. Näher besehen erweist sie sich denn auch als Kopie der Fassade des Potsdamer Schlosses Sanssouci – gut zu erkennen an dem barocken Figurenschmuck, den Atlanten und Karyatiden, die das abgebröckelte Gebälk tragen. Betritt man dann das Akademiegebäude, in dem der größte Part der Biennale zu sehen ist, so findet sich unter der Treppe im Foyer schon ein weiteres Ruinenfragment derselben Künstlerin. Diesmal ist es das empfindlich nach vorne geneigte Wandelelement eines Innenraumes, von deren reicher barocker Ornamentik sich die Farbe in großen Fetzen abschält. In die Wand eingebracht ist ein Porträt von Marie-Louise Coidavid, der einstigen schwarzen Königin von Haiti, die nach der Befreiung der Sklaven und der Unabhängigkeit des Inselstaates im dortigen Palast Sans-Souci residierte – einem dem Potsdamer Schloss nachempfundenen Prachtbau. Der Titel der Arbeit lautet „for Marie-Louise Coidavid, exiled, keeper of order, Anacaona“.


Die aus der Dominikanischen Republik stammende Künstlerin Firelei Báez, die beide Werke eigens für die Berlin Biennale entwickelte, hat einen haitianischen Vater. Für sie ist der Name Sanssouci daher weniger mit Potsdam und dem preußischen Reformer Friedrich II. verbunden als vielmehr mit dem haitianischen Nachbau, der schon knapp 30 Jahre nach seiner Fertigstellung bei einem Erdbeben zerstört wurde und heute als UNESCO-Weltkulturerbe an die Blütezeit des ersten unabhängigen Staates der Karibik erinnert – und somit auch an den ersten Staat, der von ehemaligen Sklaven regiert wurde. Báez hat die Geschichte der beiden Schlösser zu einer werden lassen und das Potsdamer Schloss in eine Ruine verwandelt. Um solche alternativen Erzählungen geht es den Kuratoren wohl, um das Verweben der Geschichte aus den unterschiedlichsten Regionen der Welt und das Aufzeigen der merkwürdigsten historischen Verbindungslinien. Nicht an jeder Stelle der Ausstellung gelingt dies so wie hier – und auch nicht alles erschließt sich ohne Weiteres.

Eine zweite eindrückliche Arbeit in der Akademie der Künste erwartet die Besucher im ersten Stockwerk. In der großen Ausstellungshalle trifft man auf eine Videoprojektion von Mario Pfeifer. Diese stellt – mit Filmschauspielern und Zeugen – auf zwei großen Kinoleinwänden eine Geschichte nach, die im April 2016 für erhebliche politische Verwerfungen sorgte und eine extreme Polarisierung der Bevölkerung nach sich zog. Pfeifer rekonstruiert in seiner Arbeit ein Ereignis, nach dem in dem kleinen ostdeutschen Ort Arnsdorf nichts mehr so war wie vorher. Anlass war der Rauswurf eines jungen verwirrten Asylbewerbers aus einem Supermarkt. Vier Männer beschimpften und verprügelten den Mann, sie zerrten ihn aus dem Laden und fesselten ihn stundenlang an einen Baum, bis endlich die Polizei eintraf. Was den Einen als Zivilcourage galt, durch die das Supermarktpersonal vor einem angeblichen Angriff geschützt werden konnte, erwies sich für die Anderen durch einen im Netz kursierenden Handymitschnitt des Tathergangs als blanke rechte Gewalt. Diese beiden sich seither unversöhnlich gegenüberstehenden Seiten, ihre Ängste und Narrative bringt die Zweikanal-Installation von Pfeifer durch eindringliche Close-ups beinahe unangenehm nahe.


Auf eine weitere bemerkenswerte Arbeit trifft man im Erdgeschoss des zweiten Ausstellungsortes, den Kunst-Werken. Hier wurde der große Ausstellungsraum in eine merkwürdig ruinöse Baustelle verwandelt. Zerstoßene Steine und Schutt, staubige Abdeckfolien und Eimer, die von der Decke tropfendes Wasser auffangen, Bretter und dazwischen seltsam mit Drähten geknebelte Figurinen sind dort im Raum verteilt. Alles ist in ein zugleich verstörendes wie auch versöhnendes Rotlicht getaucht. Auf Monitoren wird eine Aufnahme der großen schwarzen Jazzsängerin Nina Simone von 1976 gezeigt. Sie singt „Feelings“. Mit dieser Installation, die den Titel „Untitled (Of Occult Instability) [Feelings]“ trägt, hat die aus Südafrika stammende Künstlerin Dineo Seshee Bopape einen Ort für ungreifbare Erinnerungen und Gefühle geschaffen, eine seltsam gedämpfte, desorientierende und dichte Atmosphäre, die in unbekannte Regionen der Psyche lockt und das Gefühl vermittelt, in einen verlassenen Keller geraten zu sein, in einen haltlosen, geheimen, verlorenen Ort.

Die in der New Yorker Bronx geborene Performerin Okwui Okpokwasili die Besucher zu einer Mitmachperformance ein. Die Schriftstellerin, Choreographin und Performerin Okpokwasili choreographiert und spielt in Werken, die die Stabilität von Zeit, Wahrnehmung, Subjektivität und historischer Erzählung hinterfragen. Okpokwasili verwendet das Somatische als Werkzeug des Widerstands und als Vektor für die Erinnerung an vergessene, unbekannte oder absichtlich ignorierte Wissenssysteme.
Die in der New Yorker Bronx geborene Performerin Okwui Okpokwasili die Besucher zu einer Mitmachperformance ein. Die Schriftstellerin, Choreographin und Performerin Okpokwasili choreographiert und spielt in Werken, die die Stabilität von Zeit, Wahrnehmung, Subjektivität und historischer Erzählung hinterfragen. Okpokwasili verwendet das Somatische als Werkzeug des Widerstands und als Vektor für die Erinnerung an vergessene, unbekannte oder absichtlich ignorierte Wissenssysteme.

Ganz im Kontrast dazu – aber nicht weniger immersiv – ist die Situation im ersten Stock der Kunst-Werke. Dort lädt die in der New Yorker Bronx geborene Performerin Okwui Okpokwasili die Besucher zu einer Mitmachperformance ein. Die Performer gehen dabei behutsam mit dem Publikum ins Gespräch. Dann wird man in einen durch transparente Folien angegrenzten Bezirk begleitet. Dort groovt man sich im Duo oder in kleinen Gruppen in repetierende Bewegungen und Sprechgesänge ein und bewegt sich langsam und im Gleichklang. Wer sich darauf einlassen mag, und wem es nicht zu esoterisch ist, die Schuhe abzulegen und sich den Übungen anzuschließen, der dringt hier in Zonen des Sozialen vor, in denen vorbehaltlose ungeschützte Begegnungen ausprobiert werden und teilweise auch gelingen.


Den Schritt heraus aus dem geschützten Umfeld einer im westlichen Sinne gebildeten Mittelschicht wagt diese Biennale allerdings nicht. Sie bleibt ganz museal. Selbst dort, wo sie – wie im Zentrum für Kunst und Urbanistik – neue Orte erschließt. Und auch dort ist wiederum eine der bemerkenswertesten Arbeiten eine performative Installation. Unter dem Titel „Rehearsing Azaad Hind Radio“ spürt die aus Neu-Delhi stammende Zuleikha Chaudhari hier der Geschichte des charismatischen indischen Nationalisten Subhash Chandra Bose nach. Dieser gilt als wichtige Figur im indischen Unabhängigkeitskampf und strahlte zwischen 1941 und 1943 unter dem Schutz der NS-Regierung aus Deutschland heraus eine patriotische Radiosendung aus, die den indischen Befreiungskampf mit NS-Propaganda verquickte: Auch dies ist also wieder eine jener Geschichten, die skurrilen historischen Verstrickungen nachgeht und seltsamen globalen Allianzen nachspürt.


Überraschend ist, dass die de-kolonialisierenden Denkfiguren, Narrative und Bilder, welche die Berlin Biennale zeigt, nicht die Gewalt ins Zentrum stellen. Insgesamt ist die Ausstellung nur an wenigen Stellen aufwühlend, provokant oder gar verstörend. Sie ist eben alles andere als spektakulär, vermeidet Allaussagen und großspurige Behauptungen oder Ansagen. Stattdessen erzählt sie beiläufige Geschichten. Dass die Schau dennoch Bestandteil einer globalen privilegierten Elitekultur bleibt, deren Codes sich längst nicht jedem Besucher erschließen, daran ändert auch der Verzicht auf Helden und Wow-Effekte nichts, aber es macht die Sache doch immerhin erheblich sympathischer.

Titelbild: 

| Prof. Dr. Karen van den Berg / Zeppelin Universität (alle Rechte vorbehalten) 


Bilder im Text: 

| Prof. Dr. Karen van den Berg / Zeppelin Universität (alle Rechte vorbehalten)


Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Karen van den Berg

Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm

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