Strukturelle Schwächen

TTIP gefährdet nicht nur den Verbraucherschutz

PD Dr. Heribert Dieter | Gastprofessur für Internationale Politische Ökonomie
07.07.2014
TTIP weist eine ganze Reihe von Ungereimtheiten und Problemen auf, so etwa die Fragmentierung der Handelsordnung oder das widersprüchliche Verhalten der USA...

PD Dr. Heribert Dieter
Gastprofessur für Internationale Politische Ökonomie
 
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    Zur Person
    PD Dr. Heribert Dieter

    Heribert Dieter wurde 1961 geboren und forscht zu internationalen Wirtschaftsbeziehungen an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Er lehrt seit dem Fall Semester 2009 an der Zeppelin Universität.


    Dieter studierte von 1983 bis 1989 Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre an der FU Berlin, wo er 2005 auch seine Habilitation ablegte. Zu seinen aktuellen Forschungsvorhaben zählen die Untersuchung von Reformoptionen für die internationalen Finanzmärkte, die Analyse der Perspektiven der Europäischen Währungsunion und monetärer Kooperation in Asien sowie die Betrachtung der Position Deutschlands in der Weltwirtschaft des 21. Jahrhunderts. 

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Die Debatte in Deutschland zum geplanten Handelsabkommen erweckt den Anschein, es gäbe in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen kein wichtigeres Thema als den Schutz deutscher Verbraucher vor den Machenschaften der amerikanischen Agrarwirtschaft. Diese Einseitigkeit der Diskussion ist gefährlich. Denn TTIP weist eine ganze Reihe von Ungereimtheiten und Problemen auf, so etwa die Fragmentierung der Handelsordnung oder das widersprüchliche Verhalten der USA, die in der Finanzpolitik einen jahrzehntelang existierenden Konsens aufgekündigt haben und unilateral eine neue Finanzmarktregulierung implementieren. Dies ist ein bislang zu wenig diskutierter Widerspruch: Einerseits verhandeln USA und EU über die Harmonisierung von Produktstandards, andererseits werden bei der Finanzmarktregulierung neue, divergierende Regeln geschaffen.

Unter dem Motto "Zivilgesellschaft macht Dampf gegen den Konzern-Deal" protestierte das Bündnis „TTIP unfairhandelbar“ am 6. Mai 2014 vor dem Brandenburger Tor in Berlin gegen die Freihandelsabkommen TTIP und CETA.
Unter dem Motto "Zivilgesellschaft macht Dampf gegen den Konzern-Deal" protestierte das Bündnis „TTIP unfairhandelbar“ am 6. Mai 2014 vor dem Brandenburger Tor in Berlin gegen die Freihandelsabkommen TTIP und CETA.

Doch bevor die Schwächen von TTIP analysiert werden, ist zu fragen, warum es eigentlich noch immer kein Ergebnis in der Doha-Runde der Welthandelsorganisation (WTO) zu vermelden gibt. Die Befürworter eines transatlantischen Vertrags äußern immer wieder, dass es wegen des Stillstands in der Doha-Runde leider keine Alternative zu Freihandelsabkommen gebe. Zwar wäre die multilaterale Liberalisierung der Königsweg, aber dieser könne eben nicht beschritten werden, weil unter den Doha-Verhandlungspartnern kein Konsens zu erreichen sei.


Doch welche Länder stehen hier eigentlich auf der Bremse? Eine offizielle Antwort der WTO zu dieser Frage gibt es nicht, aber offenbar handelt es sich um eine geringe Zahl von Staaten. Nicht die kleinen Entwicklungsländer verhindern ein positives Resultat, sondern einige Schwellenländer sowie die USA. Washingtons Verweigerungshaltung ist vor allem innenpolitisch motiviert. In den USA fehlt heute eine breite Zustimmung zur weiteren Vertiefung der internationalen Arbeitsteilung. Viele US-Bürger nehmen die Globalisierung heute sehr kritisch wahr und äußern etwa in Meinungsumfragen erhebliche Bedenken gegenüber einer Liberalisierung des Handels. Präsident Obama hat es in seiner bisherigen Amtszeit nicht gewagt, diese Vorbehalte in der amerikanischen Gesellschaft offen anzusprechen.


Auch TTIP wird von Obama nicht als liberales Projekt angepriesen, sondern als eines, das für „freien und fairen Handel“ sorge. Damit spricht Obama die verbreitete Sorge über „unfaire“ Wettbewerber an. In den 1980er Jahren galt Japan vielen Amerikanern als „unfair“, heute wird oftmals China so eingeschätzt.


Hier zeigt sich ein erster Widerspruch von TTIP. Warum sollte die EU, die sich in ihrer eigenen Rhetorik einer offenen, multi-lateralen Handelsordnung verpflichtet sieht, ausgerechnet mit dem Land ein Abkommen schließen, das die Weiterentwicklung der WTO verhindern möchte?


Allerdings hat nicht nur Washington die WTO in eine Sackgasse manövriert. Aus heutiger Sicht war es höchst unglücklich, dass 2001 der damalige WTO-Generaldirektor Mike Moore die Doha-Runde im Allein- gang und ohne Mandat der WTO-Handelsminister zur „Doha Development Agenda“ umfirmierte. Damit schuf Moore zwei fatale Erwartungshaltungen. Die Entwicklungs- und Schwellenländer glaubten nun, dass es sich um „ihre“ Runde handle, sie also mit weitreichenden Zugeständnissen der OECD-Länder rechnen könnten. Bei den traditionellen Unterstützern einer liberalen Handelsordnung, also etwa Industrieverbänden in OECD-Staaten, entstand wiederum der Eindruck, dass die Doha-Runde ihre Interessen nicht bediene. Sie wandten sich von den WTO-Verhandlungen ab und setzten stattdessen auf bilaterale Freihandelszonen.


Von den entsprechenden Präferenzabkommen gibt es inzwischen rund 380, und über weitere 200, einschließlich TTIP, wird verhandelt. Zwar konnten sich die Handelsminister der WTO Ende 2013 in Bali auf eine Reihe von Maßnahmen verständigen, die den Handel erleichtern sollen. Doch von ihrer früheren Stärke ist die Organisation weit entfernt.

Bei TTIP wie bei anderen handelspolitischen Projekten wecken die Befürworter Erwartungen, die sich im prognostizierten Umfang nicht erfüllen werden. Dies gilt für die vorhergesagten Effekte auf das Wirtschaftswachstum ebenso wie für die erhoffte Schaffung neuer Arbeitsplätze. Der wichtigste Grund: Die negativen Auswirkungen von Präferenzabkommen werden nicht hinreichend in Rechnung gestellt.


Hier ist in erster Linie die Rolle von Ursprungszeugnissen zu nennen. Der Wegfall von Zöllen wird nämlich durch die Pflicht erkauft, den Warenursprung zu dokumentieren, was bei den Firmen zu nennenswerten Verwaltungskosten führt. Gerade für kleinere und mittelgroße Unternehmen ist es ein Problem, dass durch die Ursprungsregeln administrative Hürden entstehen.


In den Debatten über TTIP wird dieser Aspekt überraschenderweise kaum berücksichtigt. Dies gilt auch für wissenschaftliche Untersuchungen. So geht etwa eine Studie des Ifo-Instituts zu den Effekten von TTIP, die für das Bundeswirtschaftsministerium erstellt wurde, nur am Rande auf die Frage ein. Berechnet wurden die Auswirkungen nicht. Dies ist mehr als ein Flüchtigkeitsfehler. Allgemein wird erwartet, dass der ökonomische Nutzen von TTIP hoch sein werde. In der Praxis dürfte er jedoch sehr viel geringer ausfallen, als es die elaborierten Prognosen vieler Forscher nahelegen. In einem Gutachten des Ifo- Instituts für die Bertelsmann-Stiftung wurde errechnet, dass die Realeinkommen in der EU bei einem Szenario weitreichender Integration um durchschnittlich 4,95 Prozent steigen würden. Dabei blieben allerdings auch hier die Kosten unberücksichtigt, die mit der Dokumentation des Warenursprungs entstehen. Mit anderen Worten: Die Einsparungen durch den Wegfall von Zöllen wurden eingerechnet, die auf Unternehmen zukommenden Kosten jedoch nicht – eine erhebliche Schwäche des verwendeten mathematischen Modells. TTIP wird daher sehr viel weniger Arbeitsplätze schaffen, als die vorliegenden Studien suggerieren, und auch die Zunahme des Wirtschaftswachstums wird deutlich niedriger ausfallen.

Die erwähnten Versäumnisse haben auch damit zu tun, dass die Materie sehr technisch und unübersichtlich ist. Freihandelsabkommen liberalisieren den Warenhandel zwischen den teilnehmenden Ökonomien. Keinesfalls soll aber der gesamte Außenhandel der beteiligten Länder liberalisiert werden. Wäre dies das Ziel, könnten Volkswirtschaften es durch unilaterale Liberalisierung erreichen. Länder, die ein Freihandelsabkommen abschließen, wollen dagegen verhindern, dass ihre Außenhandelspolitik unterminiert wird, und dies erfordert die Beschränkung der Präferenzen auf in der Freihandelszone hergestellte Güter. Ursprungsregeln dienen dazu, die „Nationalität“, das heißt die Herkunft einer Ware, zu bestimmen. Zugleich können Ursprungregeln einfach umgangen werden; durch Zahlung des entsprechenden Zolls und den Verzicht auf präferentielle Behandlung der Handelsware wird die handelshemmende Wirkung von Ursprungsregeln beseitigt.


Liegen Zölle im einstelligen Prozentbereich, stellt sich für Unternehmen die Frage, ob die Zahlung des Zolls nicht einfacher oder gar billiger ist als die Dokumentation des Warenursprungs. Berücksichtigt man, dass die Kosten der Erstellung von Ursprungszeugnissen auf etwa fünf Prozent des Warenwerts geschätzt werden, die mittlere Zollbelastung im transatlantischen Handel bei Industriegütern jedoch nur rund 3,5 Prozent beträgt, relativiert sich der mögliche ökonomische Nutzen von TTIP.

Umgedrehter Globus

Doch nicht nur der überschätzte wirtschaftliche Nutzen lässt an TTIP zweifeln. Ein gravierendes Problem ist auch der Ausschluss Chinas und anderer aufstrebender Länder von handelspolitischer Regulierung. In dem Zusammenhang wird immer wieder die Einschätzung vertreten, USA und EU müssten diese letzte Chance zur Regelsetzung nutzen, weil andernfalls China künftig die Leitlinien der internationalen Wirtschaftsbeziehungen festlegen würde. Dabei wird unterstellt, die chinesische Regierung wäre heute noch bereit, Regeln zu akzeptieren, an deren Formulierung sie nicht beteiligt war. Diese Annahme überzeugt schon deshalb nicht, weil sie Pekings gestiegenes Gewicht und Selbstbewusstsein ignoriert.


Doch EU und USA schwächen mit den neuen handelspolitischen Großprojekten nicht nur die WTO, sie verraten auch ihre eigenen Prinzipien. Die multilaterale Handelsordnung, wie sie nach 1945 von den Amerikanern, später auch von den Europäern geprägt wurde, zielte primär darauf, die handelspolitischen Diskriminierungen der Zwischenkriegszeit zu überwinden. Das Kernelement des GATT-Vertrages von 1947, die Meistbegünstigungsklausel (Art. 1), war nicht nur aus ökonomischer Perspektive ein Meisterstück, sondern auch, was die Stabilisierung der internationalen Beziehungen betraf. Die Unterscheidung zwischen Freund und Feind im Außenhandel – so prägend während der 1930er Jahre – wurde zumindest für die am Abkommen teilnehmenden Länder erfolgreich über- wunden.


Angesichts dieser historischen Erfahrungen gibt es keinen nachvollziehbaren Grund, die multilaterale Handelsordnung über Bord zu werfen. EU und USA können den weiteren Aufstieg Chinas nicht verhindern; aber sie können sicherstellen, dass internationaler Handel innerhalb jenes Regelwerkes erfolgt, das von ihnen selbst gestaltet wurde.

Ein weiteres Problem bildet die Streitschlichtung bei Handelsdisputen zwischen einzelnen Staaten. Gerade die Schlichtung ist einer der fast einhellig gepriesenen Erfolge der WTO. Kleine und große Länder können dort handelsrechtliche Positionen anderer Staaten überprüfen lassen. EU und USA haben in diesem Rahmen häufig gegeneinander Klage geführt, etwa im Streit um Boeing und Airbus. Aber wie sollen künftig Streitigkeiten geschlichtet werden? Soll es ein eigenes TTIP-Gericht geben? Und warum sollten sich Europäer und Amerikaner untereinander bei Konflikten einigen können, die sie in der Vergangenheit selbst mit Hilfe der Schlichtung nicht überwinden konnten? Es erscheint blauäugig, eine erleichterte Streitbeilegung zwischen USA und EU ohne Hilfe der WTO zu erwarten.


Widersprüchliches Handeln der USA Fragen wirft auch die jüngste Politik der USA zur Regulierung der Finanzmärkte auf. Während der Handelsbeauftrage Michael Froman nicht müde wird, den Nutzen einer Angleichung von Standards im Warenhandel zu predigen, geht die amerikanische Bankenaufsicht einen umgekehrten Weg. 


2014 hat man sich in den USA vom bisher geltenden Heimatlandprinzip (home-country regulation) verabschiedet. Bislang wurde etwa die Deutsche Bank in Frankfurt, und ausschließlich in Frankfurt, beaufsichtigt. Ausländische in den USA tätige Großbanken werden künftig aber auch von den amerikanischen Behörden überwacht (host-country regulation) und müssen dort gleichfalls Eigenkapital halten. Über die Vor- und Nachteile einer solchen „Balkanisierung der Finanzmärkte“ (The Economist) kann man trefflich streiten, aber zum Geist eines einheitlichen transatlantischen Wirtschaftsraumes passt diese Entwicklung kaum.


Nicht nur die Deutsche Bank, auch die französische Großbank BNP Paribas sieht sich derzeit heftigen Forderungen seitens der USA ausgesetzt. Wegen Verletzung amerikanischer Sanktionen gegen den Iran und andere Länder soll BNP 10 Milliarden Dollar Strafe zahlen. Die Regierung in Paris hat diese Maßnahme scharf kritisiert; sie sieht Frankreichs Souveränität gefährdet. Wohlgemerkt – gegen französische Gesetze soll BNP nicht verstoßen haben.

Hamburg Containerhafen

Es gibt also viele Gründe, an TTIP zu zweifeln. Freihandelszonen, die das Welthandelssystem komplexer und intransparenter machen, schaden vor allem mittelständischen Unternehmen, auch in Deutschland. TTIP und andere „Mega-Regionals“ sind besonders problematisch, denn sie lassen sich mit ökonomischen Argumenten kaum erklären. Die neuen Großprojekte dienen auch geopolitischen, nicht nur wirtschaftlichen Zielen.


Der ökonomische Königsweg – eine multilaterale Regulierung und Liberalisierung des Handels – wird von der Politik zunehmend verschmäht. Stattdessen kehrt Diskriminierung in die Handelspolitik zurück, was zu wachsenden Konflikten in der neuen multipolaren Weltordnung führen dürfte. Die Geopolitik untergräbt einen liberalen Konsens in der Handelspolitik, wie er seit Ende des Zweiten Weltkriegs bestanden hat.


Der Beitrag ist erschienen bei Stiftung Wissenschaft und Politik in SWP-Aktuell, Nr. 41, Juni 2014


Titelbild: Robert Magina / flickr.com;

Bilder im Text: Mehr Demokratie e.V. / flickr.com; Judy van der Velden / flickr.com; Stephan Pabst / flickr.com

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