Politische Partizipation

Ob man „unpolitisch“ sein darf?

Aber ich sollte lernen, das Mitgefühl und die Solidaritäts-Euphorie jener Stimmen zu hören, in denen sie wie eine radikale Utopie der Herzen klingt.

Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Gastprofessur für Literaturwissenschaften
 
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    Zur Person
    Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht

    Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.  

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„Alles ist politisch“, das wusste man schon, sehr altklug, selbstgewiss und manchmal auch herablassend, als wir heute über Sechzigjährigen kaum zwanzig waren, demonstrierte also „gegen Vietnam“, widersetzte sich allen Formen von „repressiver Toleranz“ und hegte warme Gefühle der „Solidarität“ für das revolutionäre Kuba. Wer „unpolitisch“ sein wollte, was wenige Jahrzehnte vorher noch eine Möglichkeit gesellschaftlicher Eleganz gewesen war, galt entweder als ein frecher Leugner oder als ein Opfer der kapitalistischen „Ideologie“, die ihn blind gemacht hatte für die eigenen „objektiven Interessen“. Gegen unerwartete Reaktionen und Enttäuschungen wappneten wir uns mit dem Brustpanzer des Anspruchs, die „Klassiker“ des Marxismus-Leninismus (und den eher bürgerlichen Freud in wohl-dosierten Auszügen) gelesen zu haben.

Bildunterschirft

Eines Abends hatten die Genossen aus dem SDS-Kapitel (der Begriff wirkte schon damals eigentümlich) das Kruzifix im Speisesaal eines gediegenen Münchner Studentenheims durch ein selbstgedruckt rotes Plakat mit dem Aufruf zum „Generalstreik!“ ersetzt und warteten mit blaulippiger Freude auf den „Chef“, einen höheren Ministerialbeamten und des Monarchismus verdächtigen Junggesellen, der „im Haus“ für Ordnung, Arbeitsmoral und das Tischgebet sorgte. Als der Chef endlich auftauchte, machte er keine Anstalten, das Plakat zu übersehen, wippte zweimal auf den Fersen und sagte fast freundlich: „Ich sehe, die Herren haben umdekoriert“, um sich dann sein Essen servieren und schmecken zu lassen.

Dies, wollten wir von den Vorsitzenden Mao und von Ho Chi Min gelernt haben, war repressive Toleranz in Reinkultur, gegen die allein Strategien der „Eskalation“ helfen konnten. Doch wie sollte aus der Empfehlung Wirklichkeit werden? Auf akademische Streiks reagierten Dozenten schon damals eher mit verhaltener Sympathie – und das Studentenheim in Brand zu setzen, wagten wir bei allem Glauben an unsere Entschlossenheit nicht. Stattdessen nahmen wir am frühen nächsten Morgen den Linien-Bus zu einem BMW-Verwaltungsgebäude, das wir „Fabrik“ nannten, um Sekretärinnen und Verwalter, in denen wir „Proletarier“ sahen (so wie Don Quijote Galeerensklaven für verwunschene Prinzen hielt), auf dem Weg zur Arbeit mit unseren roten Plakaten und Sprechchören zu „agitieren“. Doch statt irgendeine Art von Interesse am Generalstreik zu zeigen, ignorierten die „Proletarier“ seine bunt entfalteten Symbole – im besten Fall. Andere empfahlen uns lakonisch oder wortreich, aber jedenfalls ziemlich ungehalten, zur Universität zu gehen, wo wir doch „hingehörten“ (wer immer damals protestierte, war ein „Student“), und manche drohten sogar, handgreiflich zu werden. Hier, schlossen wir mühelos, war nicht repressive Toleranz am Werk, sondern „ideologische Verblendung gegen objektive Interessen“, was uns im Prinzip und „aus historischer Perspektive“ verpflichtete, die „Proletarier“ aufzuklären über den Lauf der Welt und eben ihre eigenen Interessen. Doch das ließ sich damals schon höchstens einer von tausend „Proletariern“ gefallen.

Bildunterschrift

Unser Weltbild, das Weltbild, in dem nichts „unpolitisch“ sein sollte und durfte, war, wie man sieht, sehr elementar, anscheinend lückenlos und deshalb erstaunlich störungsresistent. Alle Menschen gehörten erstens, ob sie es wussten und wollten oder nicht, einer von eher wenigen sozialen „Klassen“ an, die sich zweitens entweder im Auf- oder Abstieg auf den Bahnen eines „Klassenkampfs“ befanden, dessen krönendes Schlusskapitel die „Diktatur des Proletariats“ sein würde. Darin, im Aufstieg der vormals Armen und Unterprivilegierten, lag auch eine Implikation von Gerechtigkeit und Ethik, von der aber nur am Rande die Rede war. Die Beförderung des Klassen-Aufstiegs und die Verhinderung des Klassen-Abstiegs vor allem waren die „objektiven Interessen“, denen niemand entkommen oder sich gar widersetzen konnte. Einer nie erwähnten und noch weniger hinterfragten Prämisse zufolge stand unser Bild vom Leben in der Geschichte für jene dominante Realität, die „alles politisch“ machte, ebenso ausnahmslos wie ausweglos, was rückblickend seine flagrante Motivationsschwäche erklärt. Regel (1) und Regel (2) wurden auf eine (verdünnte) Lektüre von Marx mit seinem hegelianischen Hintergrund und die Zuspitzung durch Lenin als „einzige rationale und wissenschaftliche Philosophie“ zurückgeführt. Regel (3) war die Anwendung jener Dosis von Freuds Theorien, die uns zu berechtigen schien, nicht ernst zu nehmen und beständig umzudeuten, was andere Zeitgenossen für ihre eigenen Interessen hielten und beschrieben — um diese dann durch „ideologisch verdrängte objektive Klassen-Interessen“ zu ersetzen. Unpolitisch sein zu wollen, das konnte nur als zynisch praktizierte oder resigniert hingenommene Blindheit gelten.

Eine Erinnerung an jene zuerst immer strahlende Klarheit, die dann bald in die dumpf dröhnende Ausnahms- und Ausweglosigkeit des „Politischen“ umschlägt, machte sich breit in meinem Kopf, als mir ein Doktorand vor wenigen Wochen die digitale Aufforderung schickte, öffentlich gegen die Rolle Israels im jüngsten Nahost-Konflikt zu protestieren. Auch die Verweigerung einer solchen Manifestation, las ich, sei – nicht anders als Protest-Aktionen — „eine politische Stellungnahme“ (da war sie wieder, die Ausnahmslosigkeit des Politischen), und deshalb habe „Blut an seinen Händen“, wer nicht protestiere (das war die Ausweglosigkeit). Die Möglichkeit einer bündig-freudianischen Interpretation von Reaktionen, die dem Ratschlag nicht folgen wollten, schien ohnehin seine Prämisse zu sein.

Bildunterschrift

Nun kenne ich diesen Doktoranden lange und intensiv genug, um von seiner Arbeit fasziniert und seinen besten Absichten überzeugt zu sein. Deshalb war mir daran gelegen, neben den unübersehbaren Parallelen auch Unterschiede gegenüber jener Welt auszumachen, die mir längst wie ein Albtraum aus der Vergangenheit erscheint. Die Mythologie des Klassenkampfs ist für meinen jungen Kollegen sichtbar in den Hintergrund getreten (ohne wohl ganz verschwunden zu sein), so dass nun die früher marginale Ethik in der weiterhin „politisch“ genannten Dimension dominant wird. Als der in jeder Hinsicht stärkere Kontrahent soll Israel in eine Position des Ausgleichs gezwungen werden; Gewalt ist bedingungslos zu unterbinden. Wer sich jener Position nicht öffentlich vernehmbar anschließt, habe „das Blut“ der im Gaza-Streifen von Militäraktionen getöteten Kinder „an seinen Fingern“.

Das neue „Politische“, muss man sich klar machen, wird von der Generation der jungen Erwachsenen heute – weltweit und in ihrer Mehrheit vielleicht — identifiziert mit einem bedingungslosen Engagement für Gewaltlosigkeit und für den Pazifismus als ihrer Folge. Damit haben sich die Orte und Implikationen der Frage, ob man „unpolitisch“ sein darf, entscheidend verschoben. Auf der einen Seite ist aus der Kritik marxistischer Selbstverständlichkeiten und Forderungen mittlerweile die Tendenz entstanden, deutlicher als je seit dem Jahrhundert der Aufklärung zwischen der Offenheit des politischen Systems für die Partizipation aller Bürger und der Verpflichtung zu solcher Partizipation zu unterscheiden, woraus sich eine neue Akzeptanz oder sogar eine Legitimität des „Unpolitischen“ ergeben kann. Auf der anderen Seite folgt aus dem ganz neuen, ethisch aufgeladenen Begriff des „Politischen“, dass jegliche Position des „Unpolitischen“ mit der Unfähigkeit oder der mangelnden Bereitschaft synonym wird, sich mit dem Leiden anderer Menschen zu identifizieren.

XXX

Während man vor-marxistisch die Frage nach dem Grad der Verpflichtung zum politisch-Sein sehr pragmatisch diskutieren konnte (im Blick auf individuelle Einflussmöglichkeiten etwa, die natürlich in der Lokalpolitik größer erschienen als in der nationalen und internationalen Politik) oder auch philosophisch (unter der Frage des „kategorischen Imperativs“, ob aktive Teilnahme an der Politik eine für alle Menschen zumutbare Verpflichtung sein soll), wird nun die Option, „unpolitisch“ zu sein, in den Augen einer wachsenden Zahl von Zeitgenossen als stumme Billigung uneingeschränkter Gewalt interpretiert. Man kann dann natürlich – mit einer etwas schalen Altersweisheit – darauf verweisen, wie diese neue, ethisch geladene Position des Politischen vielfältigen Manipulationsstrategien ausgesetzt und auch schon zum Opfer gefallen ist. Genau dies wird ja bei vielen pro-palästinischen Protestaktionen dieser Tage und auch in der Politik der Hamas hinreichend deutlich. Aber wäre es nicht trotzdem vorstellbar, dass die Bereitschaft, Gewalt unter jeder Bedingung zu vermeiden, immer weiter um sich greift – sämtliche Strategien ihrer Manipulation und ihrer Unterdrückung gleichsam ignorierend? Dann wäre „Politik“ am Ende nicht mehr jener Raum, wo Interessen-Konflikte ausgehandelt – und ab und an militärisch entschieden – werden müssen. Sie würde zum Projekt der bedingungslosen Überwindung von Gewalt und vielleicht auch von jeglicher Ungleichheit im Leben der Menschen.


Dass eine von dieser Utopie durchdrungene und getragene Welt ohne „Rechte der Stärkeren“ eine Welt wäre, in der ich leben möchte, glaube ich nicht – und selbst zu so solch minimaler Aufrichtigkeit kann man sich ja mittlerweile nur noch schwer durchringen. Aber ich sollte lernen, das Mitgefühl und die Solidaritäts-Euphorie jener Stimmen zu hören, in denen sie wie eine radikale Utopie der Herzen klingt.


Der Artikel ist im FAZ-Blog "Digital/Pausen" von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen.


Titelbild: Sr. X / flickr.com
Bilder im Text: Andrew Becraft, Frank M. Rafik

Chris Grabert, SAV Sozialistische Alternative / flickr.com


Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm

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