Nachhaltigkeit

Mit Zeitpolitik Gesellschaft verändern?

„Die Aufgaben einer Zeitpolitik für Transformation reichen von besserer Synchronisierung des täglichen Lebens und damit Gewinn an Lebensqualität über eine bedarfsadäquate Arbeitsflexibiliserungspolitik bis zur Vision eines temporalen Wohlfahrtsstaats.“

Prof. Dr. Lucia A. Reisch | Dipl oec soc Sabine Bietz
Gastprofessorin für Konsumverhalten und Verbraucherpolitik und Leiterin des Forschungszentrums Verbraucher, Markt und Politik | Akademische Mitarbeiterin am Forschungszentrum Verbraucher, Markt und Politik
 
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    Zur Person
    Prof. Dr. Lucia A. Reisch | Dipl oec soc Sabine Bietz

    Prof. Dr. Lucia A. Reisch


    Lucia A. Reisch, 1964 in Stuttgart geboren, studierte Wirtschaftswissenschaften in Hohenheim und schloss 1988 als Diplomökonomin ab.  In Hohenheim promovierte sie 1994 summa cum laude. Nach Tätigkeiten in Stuttgart, Copenhagen oder Ludwigsburg ist sie seit 2011 ständige Gastprofessorin für Konsumforschung und
    Verbraucherpolitik an der Zeppelin Universität. Ihre Forschungsschwerpunkte auf den Gebieten Verbraucherschutz, Nachhaltigkeit , Verhaltensökonomik und Gesundheitswissenschaften. Darüber hinaus ist sie  unter anderem Vorsitzende des unabhängigen Sachverständigenrats für Verbraucherfragen, Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung und Chefredakteurin des Journal of Consumer Policy.


    Dipl oec soc Sabine Bietz

    Sabine Bietz ist seit 2011 Akademische Mitarbeiterin am Forschungszentrum Verbraucher, Markt und Politik der Zeppelin Universität.

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    Factbox
    Überschrift Factbox

    Buch „Zeit für Nachhaltigkeit – Zeiten der Transformation. Mit Zeitpolitik gesellschaftliche Veränderungsprozesse steuern“
    Lucia A. Reisch, Sabine Bietz
    Taschenbuch: 148 Seiten
    Verlag: oekom verlag; Auflage: 2014 (4. Dezember 2014)
    ISBN-10: 3865817017
    ISBN-13: 978-3865817013
    Preis: etwa 16,95 Euro
     

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Zum Weiterlesen: Das Buch „Zeit für Nachhaltigkeit"


Zeitpolitik für Transformation: Was ist damit überhaupt gemeint?


Prof. Dr. Lucia A. Reisch und Sabine Bietz: Schon heute wird in gesellschaftlichen Nischen der gesellschaftliche Wandel zu nachhaltigeren Lebensstilen vorgelebt. Aufgabe einer Politik der Transformation ist es, diese Lebensstile zu unterstützen, die politischen Rahmenbedingungen entsprechend zu setzen und nachhaltigkeitswirksame Elemente für den Mainstream attraktiver zu machen. Nachhaltigere Lebensstile zeichnen sich im Kern durch weniger umweltbelastende und zugleich materiell und immateriell Wohlfahrt schaffende, gerechtere Arbeits-, Produktions- und Konsummuster aus.

Was sollte Ziel und Aufgabe eines solchen Politikfeldes sein?


Reisch und Bietz: Ziele der Zeitpolitik sind vielfältig, je nachdem, in welchem Politikfeld man sich bewegt. Aufgaben reichen von besserer Synchronisierung des täglichen Lebens und damit Gewinn an Lebensqualität über eine bedarfsadäquate Arbeitsflexibiliserungspolitik bis zur Vision eines temporalen Wohlfahrtsstaats. Inhaltlich ist Zeitpolitik immer Querschnittspolitik und damit auch von der Entwicklung im jeweiligen Politikfeld – etwa Beschäftigungspolitik oder Urbanisierungspolitik – abhängig. Entsprechend werden sich die zeitpolitischen Schwerpunkte immer weiterentwickeln und auf sich wandelnde Bedingungen und Bedürfnisse reagieren.

Schlag Zwölf - und schon ist die Hälfte des Tages rum. Damit bis dahin auch schon etwas geschafft ist, buhlen unzählige Organizer-Apps um die Gunst des Nutzers. 28 Millionen Ergebnisse listet google.de zu diesem Thema und hunderttausende Applikationen bevölkern die AppStores dieser Welt. Wie viel die kleinen Helfer wirklich bringen, muss jeder selbst wissen. Klangvolle Namen von „Kanban" bis „Pomodoro" sind aber alle mal einen Blick wert.
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Sie führen in Ihrem Buch zwei zentrale Diskurse an, wenn es um die praktische Gestaltung von Veränderungsprozessen hin zu einer nachhaltigeren Gesellschaft geht. Worin geht es darin im Kern?


Reisch und Bietz: Im Kern geht es hier um zwei Fragen. Zum einen, wie auf Makroebene das Erwerbsarbeitszeitregime mit Produktivität, Wohlstand, sozialer Kohäsion und ökologischen Folgekosten zusammenhängt. So verspricht sich die US-amerikanische Soziologin und Nachhaltigkeitsexpertin Juliet Schor von einer allgemeinen Reduktion der Erwerbsarbeitszeit eine „dreifache Dividende“ in Form von weniger güterintensiven Lebensstilen und damit weniger Umweltverbrauch, höherer Zufriedenheit und lebendigeren Nachbarschaften. Zum anderen geht es um die Frage, wie auf Mikro- und Mesoebene das Konzept des Zeitwohlstands mit Gesundheit, Zufriedenheit und Kreativität in Verbindung gebracht wird. Besonders deutlich sichtbar sind die negativen Folgen, die ein „zeitarmes“ Leben jenseits eines zeitlichen Existenzminimums in Form psychischer, sozialer und ökologischer Folgekosten mit sich bringt.

Welche Möglichkeiten für eine zeitpolitische Regulierung sind bereits auf lokaler und kommunaler Ebene vorhanden?


Reisch und Bietz: Kommunen sind wichtige Akteure der Transformation. Ausgehend von Italien („tempi della città“) und sich ausweitend über Deutschland, Frankreich, Spanien, Irland und Finnland wird die Lokalisierung der Zeit-Governance auf lokaler und kommunaler Ebene seit einiger Zeit erprobt und europaweit politisch gefördert. Bekannte Beispiele für eine solche zeitpolitische Regulierung auf lokaler Ebene sind:
| Zeitleitpläne: Flächennutzung, Verkehrssystem und Öffnungszeiten der Dienstleister in einer Kommune werden aufeinander abgestimmt. Das Ziel ist nicht nur die Steigerung von Effizienz der öffentlichen Verwaltung, sondern die Mehrung der individuellen zeitlichen Gestaltungsmöglichkeiten der städtischen Bevölkerung im Alltag.
| Lokale Mobilitätspakte: Bürgerinnen und Bürger schließen mit der kommunalen Leitung und den Verkehrsbetrieben eine Vereinbarung über Mobilitätsangebote ab. Dies ermöglicht der Bevölkerung, eigene Alltagszeiten, die städtische Zeitgestaltung und die Transport- und Verkehrszeiten miteinander zu vereinbaren.
| Lokale Zeitbüros in städtischen Verwaltungen: Aufgabe der Zeitbüros ist es, die Öffentlichkeit, Verwaltung und Unternehmen für zeitpolitische Konflikte zu sensibilisieren, zeitliche Interessen zu eruieren und zu sammeln und zwischen Zeitansprüchen vermittelnde Lösungsoptionen zu entwickeln.

Hat die Zeit im Griff: Das Kaninchen aus dem Film „Alice im Wunderland". Ursprünglich erschien die Geschichte um Alice erstmals 1865 als Kinderbuch des britischen Schriftstellers Lewis Carroll. Während ihre Schwester ihr aus einem Buch vorliest, sieht Titelheldin Alice ein sprechendes, weißes Kaninchen, das auf eine Uhr starrt und meint, es komme zu spät. Neugierig folgt Alice dem Kaninchen und landet ohne Weiteres im Wunderland. Nach etlichen Abenteuern, die hervorragend ins Genre des literarischen Nonsens passen, wacht Alice übrigens neben ihrer Schwester wieder auf - so viel sei schon mal verraten. Lesens- und sehenswert sind Buch und Filme trotzdem allemal.
Hat die Zeit im Griff: Das Kaninchen aus dem Film „Alice im Wunderland". Ursprünglich erschien die Geschichte um Alice erstmals 1865 als Kinderbuch des britischen Schriftstellers Lewis Carroll. Während ihre Schwester ihr aus einem Buch vorliest, sieht Titelheldin Alice ein sprechendes, weißes Kaninchen, das auf eine Uhr starrt und meint, es komme zu spät. Neugierig folgt Alice dem Kaninchen und landet ohne Weiteres im Wunderland. Nach etlichen Abenteuern, die hervorragend ins Genre des literarischen Nonsens passen, wacht Alice übrigens neben ihrer Schwester wieder auf - so viel sei schon mal verraten. Lesens- und sehenswert sind Buch und Filme trotzdem allemal.

Können Sie ein praktisches Beispiel für kommunale Zeitpolitik nennen?


Reisch und Bietz: Sicher, hier gäbe es einige zu nennen. Herausgreifen möchten wir ein aktuelles Beispiel aus Bad Kissingen: Die erste „ChronoCity“ der Welt. Mit dem Projekt wollen die Initiatoren individuellem Schlaf mehr Raum und zustehende Berechtigung zukommen lassen. So orientiert sich die zeitpolitische Initiative an den Erkenntnissen der Chronobiologie, die sich mit der zeitlichen Organisation von Organismen und mit biologischen Uhren beschäftigt. Danach bestimmt die biologische Uhr zum Beispiel, zu welchem Zeitpunkt eine Person müde wird und aufwacht, Hunger bekommt und besonders leistungsfähig und stressresistent ist. Licht ist dabei der wichtigste Zeitgeber für die Synchronisation der biologischen Uhr mit der Umwelt. So hat sich im Laufe der Evolution die biologische Uhr an den natürlichen Wechsel von Tag und Nacht optimal angepasst. Entscheidend ist, dass jeder Mensch eine angeborene und deshalb individuelle biologische Uhr besitzt. Die moderne Gesellschaft erlaubt heutzutage allerdings, zu jeder Tages- und Nachtzeit aktiv zu sein, da jeder alle Möglichkeiten hat, Licht und auch Schlaf rund um die Uhr (quasi on demand) zu steuern. Dies jedoch stört die biologische Uhr und die Gesundheit. Das Ziel von „ChronoCity“ ist es, die Kurstadt Bad Kissingen als Stadt mit mehr Wohlbefinden, Zufriedenheit, Gesundheit, Produktivität und in der Summe eine höhere Lebensqualität zu positionieren. Dies ist auch eine Reaktion auf den Wegfall der Bezahlung einer klassischen Kur im deutschen Gesundheitssystem. Das Projekt schließt alle Bereiche des Gesundheitswesens in Bad Kissingen ein und ermöglicht neue individualisierte und zeitsensible Therapieformen.

Inwiefern fördern zeitpolitische Initiativen die Transformation zu einer nachhaltigeren Wirtschaft und Gesellschaft?


Reisch und Bietz: Zeitpolitische Initiativen können auf mehrfache Weise die Transformation zu einer nachhaltigeren Wirtschaft und Gesellschaft fördern: Zum einen sind sie Experimentierräume und Reallabore, in denen Instrumente und Ansätze ganz praktisch und kleinschrittig in einem begrenzten Setting – und mit begrenzten Folgen bei Nichterfolg – ausgetestet und schrittweise optimiert werden können. Insofern findet hier „policy learning“ statt, sowohl was Prozesse als auch was realistische Ziele, effektive Strategien und instrumentelle Lösungsoptionen angeht. Gut ausprobieren lässt sich zudem die Wirkung von Motivallianzen – etwa ökologische oder pädagogische Ziele. Zum anderen wirken diese Initiativen gesellschaftsweit als Modelle und – im Erfolgsfall – als Leuchttürme („Es geht auch anders!“). Sie können Visionen und Szenarien anreichern und „bebildern“ und damit den Raum des Denkbaren erweitern. Schließlich sensibilisieren sie die Öffentlichkeit, bringen Zeitthemen auf die gesellschaftliche Agenda und schaffen damit langfristig Interesse, Raum und Legitimation einer Zeitpolitik für Transformation.

Spielen Zeitfragen in der deutschen Politik derzeit eine Rolle?


Reisch und Bietz: In der deutschen Politik hat jüngst ein systematischer Dialog über „Das gute Leben“ eingesetzt. Eingeleitet durch die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“, begleitet von einem „Zukunftsdialog“ des Kanzleramts zum guten Leben in Deutschland und aufgegriffen im aktuellen Koalitionsvertrag der Großen Koalition ist das Thema Wohlstand, „Das gute Leben“ und Zufriedenheit jenseits des Wirtschaftswachstums politikfähig geworden.

Welche Ansatzpunkte für einen konkreten Beginn einer breit akzeptierten und wirksamen Zeitpolitik für gesellschaftliche Transformation schlagen Sie vor?

Reisch und Bietz: Um eine Zeitpolitik für Transformation auf den Weg zu bringen, könnten erste Schritte sein:
| ein gesellschaftlicher Diskurs über die Rolle von Zeit für „Das gute Leben“, sowohl innerhalb – anschlussfähiger – Regierungsstrategien als auch bei unterschiedlichsten politischen und subpolitischen Akteuren,
| zeitpolitische Arenen und Reallabore, um Strategien und Instrumente auf allen Governance-Ebenen und diversen Politikfeldern zu entwickeln und zu testen sowie
| transdisziplinäre Zeitforschung in enger Koordination mit der Nachhaltigkeits- und Transformationsforschung, um die notwendige empirische Evidenz für wirksame Zeitpolitik zu generieren.

Zu welchen Fragen müsste im Bereich der Zeitpolitik noch genauer geforscht werden?

Reisch und Bietz: Die Transformationsforschung steht an sich noch ziemlich am Anfang. Welche Rolle die Zeitpolitik hierbei spielen könnte, ist bislang nur grob skizziert. Konkret könnte die empirische Basis verbessert werden, beispielsweise über Zeitbudgetstudien. Auch mehr Wissen über Phasen, Prozesse und deren Zeitbedarfe könnte dazu dienen, Transformationsprozesse zu begleiten und kritische Phasen vorauszusehen.

„Zeit für Nachhaltigkeit – Zeiten der Transformation. Mit Zeitpolitik gesellschaftliche Veränderungsprozesse steuern“

„Zeit für Nachhaltigkeit – Zeiten der Transformation. Mit Zeitpolitik gesellschaftliche Veränderungsprozesse steuern“
Lucia A. Reisch, Sabine Bietz
Taschenbuch: 148 Seiten
Verlag: oekom verlag; Auflage: 2014 (4. Dezember 2014)
ISBN-10: 3865817017
ISBN-13: 978-3865817013
Preis: etwa 16,95 Euro

Titelbild: nsub1 / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)

Bilder im Text: Dennis Skley / flickr.com (CC BY-ND 2.0)

"WhiteRabbit" by Source. Licensed under Fair use via Wikipedia.

Simon Law/ flickr.com  (CC BY-SA 2.0)


Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm & Alina Zimmermann

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